Musik über einen anthropologischen Zugang zu verstehen, heißt dann auch, sich mit den subjektbezogenen Kategorien des Genusses, des Erlebens, der musikalisch(-ästhetischen) Erfahrung auseinander zu setzen.
Max Fuchs, 2001: Wozu
Kunst? S. 48
Fast fünfzig Jahre nach ihrer Gründung sieht die Documenta sich erneut mit den Gespenstern einer unruhigen Zeit fortwährender kultureller, gesellschaftlicher und politischer Konflikte, Veränderungen, Übergänge, Umbrüche und globaler Konsolidierungen konfrontiert. Wenn wir diese Ereignisse in ihrer weitreichenden historischen Bedeutung bedenken und ebenso die Kräfte, die gegenwärtig die Wertvorstellungen und Anschauungen unserer Welt gestalten, wird uns gewahr, wie schwierig und heikel die Aussichten der aktuellen Kunst und ihrer Position bei der Erarbeitung und Entwicklung von Interpretationsmodellen für die verschiedenen Aspekte heutiger Vorstellungswelten sind.
Okwui Enwezor, Künstlerischer Leiter der Documenta 11, 2002, im Vorwort zum Short Guide zur Ausstellung
Über Musik als
Kommunikation
Heinz-Josef Florian, Gladbeck, Januar 2003
florian@folkwang-hochschule.de
Die Mähr von der Musik als universaler
Weltsprache läßt sich leicht ad abdsurdum führen – man konfrontiere
beispielsweise den Hip Hop-Fan mit der Pekingoper oder man setzte dem
Operettenliebhaber ein Stück aus der Neuen Musik vor. Dennoch ist allenthalben
davon die Rede, dass Musik „sich mitteilt“, den Charakter von Sprache besitzt
usw..
Die These von der Musik als besondere
Form der Kommunikation eröffnet ein weites Feld von Studienobjekten zur
Annäherung an die Frage nach dem "Sinn" in der Musik: Wahrnehmung und
Erkenntnistheorie, Kommunikationstheorie, Semiotik ... . Wer kommuniziert, mit
wem, warum? Was bewirkt die kommunikative Wirkung in einem Musikstück? Ist die
Rede von zeitgenössischer Musik und ihrer problembehafteten Rezeption, so
gelangen außerdem gesellschaftliche Belange und Begriffe wie Postmoderne
ins Blickfeld.
Nachdenken über Musik erfordert daher
eine interdisziplinäre Vorgehensweise, die den praktischen Musiker und den
Musikliebhaber nicht selten vor Probleme stellt. Kaum ist man einem der
möglichen "Stränge der Erkenntnis" ein Stück weit gefolgt, stellen
Fachleute mit plausiblen Argumenten den beschrittenen Weg in Frage und weisen
in eine gänzlich andere Richtung.
Vorliegender Text versucht eine
Orientierung in diesem Dschungel, wobei verschiedene Aspekte von Musik als
Kommunikation gegenübergestellt werden. Die aufgegriffenen Gedanken berühren
allerdings jeweils nur die Oberfläche (für jedes Thema läßt sich mühelos eine
Vielzahl von ausführlichen und kontroversen Schriften finden) und fördern
keineswegs neue Ideen zu Tage. Vielmehr werden eine Menge Zitate
aneinandergereiht, die manchmal wiederum Zitate enthalten usw. Allenfalls die Auswahl,
Verknüpfung und Gegenüberstellung der Zitate kann meine Authorenschaft und
damit meine spezifische Sicht der Dinge für sich beanspruchen. Doch auch dies
ist zweifelhaft, da die Auswahl der Texte ein hohes Maß an Zufälligkeit
enthält: wären mir andere Texte begegnet, so wäre die Auswahl eine andere
geworden. Eine systematische Literatursichtung fand nicht statt. Daraus erklärt
sich das hohe Maß an Subjektivität dieses Textes. Vornehmlich dient er mir
selbst zu einer vorläufigen Orientierung.
Der Text ist folgendermaßen
organisiert: die Rede über Musik als Kommunikation beginnt mit der Darstellung
des "ontologischen Ansatzes", dem nach einem Exkurs über die
Entwicklung der abendländischen Kunstmusik der "anthropologische
Ansatz" gegenübergestellt wird. Es folgen Abschnitte mit den Überschriften
Wahrnehmung, Pragmatik, Kultur,
Postmoderne, Kunst, Magie, Ontologie revisited, Fazit.
Eine Art, sich der Musik als
Kommunikation zu nähern, ist der "ontologische" Ansatz. Im Mittelpunkt
steht dabei das Kunstwerk, in der Regel das autonome Kunstwerk der
abendländischen Darbietungsmusik als höchste Vollendung dessen, was als Musik
bezeichnet wird. Wie Goethe 1798 sagt (zitiert in [Wö] S. 224):
Ein
vollkommenes Kunstwerk ist ein Werk des menschlichen Geistes. Es will durch
einen Geist, der harmonisch entsprungen und gebildet ist, aufgefaßt sein, und
dieser findet das Vortreffliche, das in sich Vollendete, auch seiner Natur
gemäß. Davon hat der gemeine Liebhaber keinen Begriff; er behandelt ein
Kunstwerk wie einen Gegenstand, den er auf dem Markte antrifft; aber der wahre
Liebhaber sieht nicht nur die Wahrheit des Nachgeahmten, sondern auch die
Vorzüge des Ausgewählten, das Geistreiche der Zusammenstellung, das
Überirdische der kleinen Kunstwelt, er fühlt, daß er sich zum Kunstwerk erheben
müsse, um das Werk zu genießen, er fühlt, daß er sich aus seinem zerstreuten
Leben sammeln, mit dem Kunstwerk wohnen, es wiederholt anschauen und sich
selbst dadurch eine höhere Esxistenz geben müsse.
Zwar ist bei Goethe der Hörer als
rezipierendes Gegenüber des Musikobjektes thematisiert, dieser muß sich jedoch
dieses Objekt hörend erobern. Der eigentliche Gegenstand des Diskurses ist das
Objekt. Hier ergibt sich bezüglich der Musik eine Schwierigkeit, nämlich die
Flüchtigkeit der real erklingenden Musik. Auf das "Objekt" kann nur
indirekt als Hörerfahrung rekurriert werden, wodurch unmittelbar
erkenntnistheoretische Überlegungen auf den Plan gerufen werden:
Vielmehr
sind Wahrgenommenes und Wahrnehmender, Subjekt und Objekt, wesentlich getrennt,
begrifflich inkommensurabel, - ja, der Akt der Wahrnehmung
selbst ist die einzige Kommensur, der Akt der Wahrnehmung läßt Mensch und Ding
als Subjekt und Objekt erst entstehen.
Zusammentreffend
im Akt der Wahrnehmung generieren Wahrgenommenes und Wahrnehmender etwas
Drittes, von beiden verschiedenes, qualitativ neues und einer ganz anderen,
inkommensurablen Welt angehörendes, die Empfindung.
Wenn
die Substanz aller unserer Vorstellungen und Urteile jedoch die Erfahrung ist,
dann folgt daraus, daß alle unsere Vorstellungen und Urteile nur in der
Funktion von Modellen ihre Gültigkeit haben.
"Tranzendental
idealistisch und empirisch realistisch" bedeutet, grob zusammengefaßt
also, daß die "Welt als Ding" zwar unabhängig von uns als existent
angenommen wird, jedoch als
solche unserer Wahrnehmung nie und nimmer
zugänglich ist.
Jede
"Wirk-Lichkeit" ist vielmehr immer ein Modell. [Lepper, S. 29]
Zwar scheint der Notentext im ersten
Augenblick ein gültiger Ersatz für das ganze Kunstwerk genommen werden zu
können, doch ist dieser Text selbst wieder nur ein Modell, dessen Rückbezug auf
"das Kunstwerk" Quelle unerschöpflicher Diskussionen sein kann.
Kommunikationstheorie in diesem
Zusammenhang wird beherrscht vom kybernetischen Sender - Empfänger - Modell:
Der Komponist ist der Sender, der
Hörer der Empfänger einer Nachricht. Es gilt, diese Nachricht richtig und
angemessen zu dekodieren, das heißt, die Zeichen mit Semantik zu belegen und
vermöge einer durch Konvention festgelegten Syntax zu einer sinnvollen
Botschaft zu verbinden.
Eine
Voraussetzung für erfolgreiches musikalisches "Verstehen" ist die
Erfaßbarkeit des präsentierten Materials und die Möglichkeit musikalische
Entwicklungen mitverfolgen zu können. ... Durch die Dynamik interagierender
Verarbeitungsprozesse und die unbestimmte Abschätzbarkeit von Erwartungen
stellt sich Musikhören im übertragenen Sinn als
"Problemlösungsprozess" dar, der dem Hörer bei der musikalischen
"Informationsübertragung" eine aktive Teilnahme abverlangt. [Matt, S. 1] Gemeinsam ist allen Erklärungsversuchen den Begriff der
"Wahrnehmung" über die Prozesse der Ordnung und Organistation von
Elementbeziehungen zu beschreiben. Das Schaffen von "Ordnung" durch
das Erkennen "sinnvoller" Strukturen sowie ihre adäquate Verarbeitung
und Repräsentation ist ein Charakteristikum natürlicher Wahrnehmung. Das
Erkennen und im übertragenen Sinn auch das "Problemlösen" bei der
Auswahl und Anwendung passender Kategorien hängen von der Verfügbarkeit und
geeigneten Repräsentation von Information ab. [Matt, S. 7].
Begriffe wie
"Problemlösungsprozess" und "Erkennen sinnvoller
Strukturen" klingen in den Ohren des Hörers Neuer Musik oder des
historisch sensiblen Analytikers klassischer Musik seltsam vertraut. Folgt man
etwa Leppers Darstellung des Kompositionsvorgangs als bestehend aus
·
Hintergrund
(Anlass der Komposition, außermusikalische Bestimmungen),
·
Mittelgrund
(Gesamtheit der kompositorischen Entscheidungen, Materialdisposition, Regeln,
Skizzen, Gedanken, Regeln der evtl. individuellen „Sprache“) und
·
Vordergrund
(Resultat des Arbeitsprozesses, also die erklingende Aufführung, das lesbare
Notat etc.)
[Lepper S. 42], so besteht Analyse
(und allgemein Rezeption) darin, aus dem Vordergrund ein sinnvolles und
plausibles Modell des möglichen Mittelgrundes zu gewinnen. Somit kann
"Komposition als Disposition von Datentransformation und
Sprachdesign" aufgefasst werden (so der Titel des Buches [Lepper]).
Harmonielehre und Kontrapunkt,
unzählige analytische und vergleichende Abhandlungen über die unbestrittenen
Meisterwerke von Barock bis Romantik, schließlich reichhaltiges biografisches
Material tragen selbstverständlich dazu bei, den Mittelgrund zu erahnen. Auf
diese Weise wird musikalische Bildung und Kompetenz erworben. Dies führt
letztendlich dazu, die Musik zu "verstehen" und zu lieben.
In dem Buch "Semiotics of
Music" des Mathematikers/Musikers Guerino Mazzola wird die analytische
Sichtweise auf die Spitze getrieben. Zwar postuliert er:
... music is communication, has meaning and mediates
on the physical level between its mental and psychic levels.
Der physical level rückt dann allerdings sofort in den Vordergrund.
Gute Gründe dafür gibt es zuhauf: allein schon die genaue Unterscheidung der
physikalischen Ebene der erklingenden Töne als Luftschwingungen von der
physikalischen Ebene des Notentextes im Hinblick auf semiotische Implikationen
ist es Wert, mathematisch penibel untersucht zu werden.
Wenn allerdings in kunstvoller Weise
ein mathematischer Apparat aufgebaut wird, um eine hierarchische Kette von
"Semiotiken" im Sinne einer Hjelmslev
stratification aufzubauen, um einen einzelnen Klavierton als stetig
differentierbaren Isomorphismus zwischen offenen Umgebungen von MK (mental
kernel) und PK (physical kernel) zu beschreiben ([Mazz 2]), so nimmt
es nicht Wunder, dass die eigentlichen Kernfragen zur Musik nur am Rande in
Form von Ausblicken berührt werden
können.
Die ästhetische Wirkung eines Werkes
der abendländischen Kunstmusik hat sicherlich einiges zu tun mit der lustvollen
Freude des Menschen am erfolgreichen Problemlösen. Aber beschreibt man damit
wirklich das, was Musik dem Menschen bedeutet?
Als Beispiel für die Schwierigkeit,
Analyse mit kommunikativen Aspekten in Verbindung zu bringen, mag das 1984 entstandene Stück Dérive 1 von
Pierre Boulez dienen. In der als "abschweifende Bemerkungen"
bezeichneten Analyse von Thomas Bösche in [MK96] erfährt man, dass dem Stück 6
Hexachorde (in fester Oktavlage) zugrunde liegen. Die Akkorde ... werden zunächst in der Abfolge von I bis VI,
zwischen den sechs Instrumenten heterophon aufgefächert, exponiert, im weitern
Verlauf des Werkes jedoch von dieser Reihenfolge abweichend verwandt, .... In
den beiden Teilen des Stückes beginnt dann sogleich eine Art "Vermischungsprozeß".
Die Töne der einzelnen Akkorde überlagern sich allmählich. Dabei handelt es
sich um einen stets fortschreitenden Vorgang, der zunächst in Form von
"Vorwegnahmen" und "Echos" zu Überschneidungen einzelner
oder mehrerer Töne führt... usw.
Selbst das Absolute Gehör dürfte daran
scheitern, die Strukturierung der Töne zu den sechs Hexachorde zuwege zu
bringen, geschweige denn die Übergänge hörend nachzuvollziehen. Diese
genotypischen Strukturmerkmale bleiben somit dem Phänotyp der erklingenden Musik
gänzlich verborgen. Andererseits gehören sie zum Vordergrund der Komposition.
Ist damit nicht die Konstruktion des Mittelgrundes und damit das „Verstehen“
des Stückes zum Scheitern verurteilt?
Die Versicherung, dass die genaue
Kenntnis des Wie einer Komposition keineswegs notwendige Voraussetzung
zum "Verstehen" sei, wirft die Frage auf, inwiefern der Genotyp den
Phänotyp so beeinflusst, dass dennoch auf den Mittelgrund geschlossen werden
kann. Gelingt diese Bezugnahme nicht, so bleibt in obigem Beispiel die
Disposition der Tonhöhen reine Konstruktionshilfe und ist beliebig
austauschbar. Über deren ästhetischen Wert (und die in mir induzierte Wirkung)
wird somit gar nichts ausgesagt, wie Boulez übrigens selbst formuliert: Meiner Meinung nach erkennt man das Metier
besonders daran, dass die Ökonomie der Mittel auf ihren höchsten Stand gebracht ist. Was
allerdings die Ideen nicht unbedingt wertvoll macht. [Boulez, S. 187].
Wodurch wird aber eine Idee wertvoll?
Während die Analyse den Genotyp an Hand des Notentextes explizieren kann, tut
sie sich Schwer damit, die Verbindung zum Phänotyp herzustellen. Sie gerät also
in einen Erklärungs-notstand, wenn sie das Werk aus sich selbst heraus
„erklären“ will.
Die oben angesprochene Verdeckung des
Genotyps durch den Phänotyp mag als spezifisches Problem der "Neuen
Musik" erscheinen. In tonaler Musik wird dieses Problem in der Regel weit
weniger erlebt. Begründet wird das üblicherweise mit etwa folgender
Argumentation:
Die
Tonalität - das ist erst wirklich deutlich geworden, als man sich zu Beginn des
Jahrhunderts von ihr abwandte- war mehr als ein System, in dem lediglich
Tonhöhen und Tonhöhenkomplexe hierarchisch geordnet waren. Wenn man die drei
oben erwähnten Schichten möglicher Komposition (Material - Struktur - Form) der
Betrachtung der Tonalität zugrundelegt, werden erst ihre vielfältigen
Verflechtungen spürbar. Denn mit der Ordnung von Tonhöhcn gehen auch metrische
und rhythmische Ordnungen einher, sich gegenseitig bedingend und unterstützend
.... Vor allem ist hervorzuheben, daß nahezu alles, was in der Detailstruktur
steckt, für den Hörer auch wahrnehmbar wird: Deshalb läßt sich in der
traditionellen Musik Struktur nicht so deutlich von Form trennen wie in der
entwickelten gegenwärtigen Musik; sie stehen dort wie eins für das andere. [Gies]
Doch hat sich die abendländische Musik
langsam erst zur oben angedeuteten Tonalität entwickelt. Der Übersicht halber
sei deshalb an dieser Stelle ein kleiner Exkurs eingefügt, der diese Entwicklung
der Musik hin zur abendländischen Kunstmusik in gröbsten Zügen skizziert:
In einem langwierigen über
Jahrhunderte sich erstreckenden Prozess hat sich der gregorianische Choral
langsam hin zur Mehrstimmigkeit entwickelt. Beteiligt an dieser Entwicklung
waren die von Blaukopf ([Blau]) so eindrücklich beschriebenen Mechanismen der
christlichen Entsinnlichung, aber auch das Zusammentreffen der aus
orientalischen Ursprüngen stammenden Gregorianik während ihrer Ausbreitung in
die Länder nördlich der Alpen mit der "germanisch-keltischen"
Klanglichkeit. Gerhard Nestler spricht in diesem Zusammenhang gar vom
"Klang als Vater der Mehrstimmigkeit". Festzuhalten bleibt, wie wenig
zu dieser Zeit die Musik mit ihren späteren Entwicklungen und unserer heutigen
Auffassung zu tun hat; mit Bezug auf die Organa
des berühmten Perotinus zu Notre Dame, Paris (erste Hälfte des 13.
Jahrhunderts), schreibt Wörner:
Über
den einzelnen lang ausgehaltenen Cantus-firmus-Tönen (weit über 100 Takte einer
modernen Übertragung) wird ein "Naturklang" errichtet aus Quint,
Quint-Oktav oder Quart, Quart-Oktav, der verziert, melodisch ausgefüllt und
umspielt wird. Den einzelnen Stimmen sind kleine Motive zugeteilt; im
Wechselspiel der verschiedenen Stimmen und durch das alternierende
Ineinandergreifen der Motive entsteht eine klanglich-rhythmische Einheit. Mit
dem Wechsel der Cantus-firmus-Töne tritt jeweils ein neuer Klangbereich ein.
Vorwiegend statische, spannungslose Klangauffassung. [Wö, S. 122 ff].
Man bedenke, dass zwar die bis zu vier
Stimmen der Organa Perotins schon mit Hilfe der Mensuralnotation synchronisiert
wurden, die frühen zweistimmigen Organa etwa des Klosters St. Martial de
Limoges jedoch ebenso wie
die gregorianischen Choräle eine sehr
freie und „schweifende“ Zeitgestaltung besaßen. Strukturierte Melodien gab es
nicht. Die Musik war ausschließlich klanglicher Träger des heiligen Wortes. Die
Tonfolgen wurden mündlich überliefert, wobei die einzelnen Melodiebausteine
quasi improvisatorisch, evtl. unterstützt durch Handbewegungen des Cantors (die
Neumen), aus dem Gedächtnis im Zusammenhang mit dem Text abgerufen wurden.
Dass die so entstandene und später
ausschließlich erklingende mehrstimmige abendländische Musik als einzigartiger
Sonderfall in der Geschichte angesehen werden muss, liegt wohl auch in der
ungeheuren Komplexität dieser Musik begründet, wie sie sich z.B. kurze Zeit
später in der isorhythmischen Motette oder den Polyphonien der
franko-flämischen Meister zeigt. Daran wird der Übergang zur frisch erfundenen
Notenschrift einen nicht geringen Anteil haben, wie Max Weber feststellt:
Ein
irgendwie kompliziertes musikalisches Kunstwerk ... ist ohne die Mittel unserer
Notenschrift weder zu produzieren noch zu überliefern noch zu reproduzieren; es
vermag ohne sie überhaupt nicht irgendwo und irgendwie zu existieren, auch
nicht etwa als interner Besitz seines Schöpfers. ([Blau], S. 179).
Andererseits:
Der
Durst nach Genauigkeit tötet die Genauigkeit: die noch so sprudelnde
musikalische Realität verliert, wenn sie einmal auf dem Papier mundtot gemacht
ist, ihre psycho-physiologische Faszination; von daher das Defilé der immer
üppiger werdenden "musikalischen Sprachen" - unweigerliches Synonym
immer mehr um sich greifender Dekonstruktionen ... [Charles, S. 117]
Seit dem 14. Jahrhundert wandelte sich nun die
zyklische Zeitauffassung der Agrargesellschaft immer mehr zu einem linearen
Zeitbegriff ([Blau], S. 34), der eine Gliederung und schließlich Formung des
musikalischen Ablaufs mit Anfang und Ende erheischt. Durch die am Ende des 16.
Jahrhunderts auftretende Monodie und die um sich greifende akkordharmonische
Musikauffassung wandelt sich die Musik
im 17. Jahrhundert schließlich zur neuzeitlichen Gestalt der Darbietungsmusik.
Erst jetzt spricht man von Takt, Repertoire, Dur/Moll-Tonalität etc. Blaukopf
spricht in diesem Zusammenhang von einer Mutation der Musik [Blau, S. 180]. Der
schon weit vor dem 14. Jahrhundert gelegte Keim der Autonomie der Musik (durch
die Abspaltung von der ursprünglichen Einheit mit Wort und Tanz) wird dann
später von Beethoven zur vollen Entfaltung gebracht und führt zu dem, was wir
heute als autonome abendländische Kunstmusik bezeichnen.
Insgesamt würde ich also das, was
heute im summarischen Begriff "klassische Kunstmusik" mitschwingt,
als Musik auffassen, die auf jeden Fall erst ab ca. 1600 entstanden ist und
dann gut 300 Jahre später zur "tonalen Krise" führte. Das 20.
Jahrhundert bemüht sich um Überwindung dieser Krise durch eine Neudefinition
des musikalischen Materials, u.a.
aufgrund analytischer Dissoziation der Musik und Resynthese der so
gewonnenen "Parameter" auf neue Weise. Damit entsteht automatisch der
Bedarf, die "Musik an sich" neu zu überdenken, also einer der Gründe
für das Entstehen der vorliegenden Überlegungen:
Das
Fehlen jeglicher Vorgabe aesthetischer Vorentscheidungen ist inzwischen zum
allgemeinen Horizont von Komponieren in unserer multikulturellen Welt geworden.
Die gleichzeitige Präsenz vieler, sich logisch ausschließender musikalischer
Systeme bedeutet in letzter Konsequenz die Auslöschung von deren
selbstverständlicher ( und so vom Instinkt erfaßbaren) Verfügbarkeit. [Zender, S. 37].
Kommen wir noch einmal auf das
Auftauchen der Schrift in der Musik zurück: "Mündliche
Tradition" heißt direkte Übertragung vom Lehrenden auf den Lernenden; die
Musik wird gleichzeitig körperlich, seelisch und geistig weitergegeben in einem
mimetischen Vorgang, der keine abstrakten Zeichen verwendet. Gestalt und Sinn
der Gestalt werden ungeschieden vermittelt; sie treten niemals auseinander. So
kann es auch keine Veränderungen der Überlieferung geben. Das, was die Griechen
"poiesis" und "mimesis" nannten und was in der lateinischen
Kultur des Mittelalters mit "productio" und "imitatio"
übersetzt wurde, bildetet eine Einheit. Diese Einheit wird durch die Erfindung
der Notation, das heißt einer Schrift, aufgebrochen. Aufzeichnung heißt
Akzentuierung, Verkürzung, Abstaktion. Jeder Aufzeichnende setzt andere
Akzente, sieht die Fülle des realen Vorganges von einer anderen Seite; es
entstehen sofort Widersprüche zwischen den Aufzeichnenden. Darüber wird
diskutiert - bis zu dem Punkt, an dem die Diskussion mehr Interesse absorbiert
als die Weitergabe der Gestalt. Die Musik ist nun zum Objekt geworden.
[Zender, S. 64].
Diskurs und Sprachspiele werden uns
weiter unten noch beschäftigen. An dieser Stelle ist es wichtig, die durch
Schrift und Auffassen der Musik als „Text“ forcierte Abstaktion und Hinwendung
zum Analysierbaren und Diskutierbaren zu bemerken.
Eines
der tiefsten Symbole für diese krisenhafte allmähliche Verwandlung der
europäischen Geistigkeit ist die Figur des Ritters von der traurigen Gestalt.
Don Quijote will all die großartigen, christlich-heroischen Ideale, die er in
seinen alten Ritterbüchern findet, buchstabengenau in einer veränderten Welt
realisieren. Seine Lächerlichkeit entspringt seiner Weigerung, eine Differenz
zwischen der Zeit des Textes und der eigenen Zeit anzuerkennen. Um am Ende zu "Alonso
Quijano, dem Guten", zu werden, muß er nicht seinen Idealen wohl aber dem
Text der Bücher abschwören - jenen Schriften, die nichts als Verwirrung über
ihn und die Welt gebracht haben. So wendet er sich von der "imitatio"
ab und der "productio" zu: der Selbstverantwortung, der
"Individuation". [Zender,
S. 63]
Dieser in der Tonalität angelegte
Prozess der Individuation (mit ihrem Höhepunkt in der Romantik) wird ja auch
als der selbstzerstörerische Keim der tonalen Musik angesehen.
Das bisher gesagte zusammenfassend: Die logisch-analytische Auffassung von
Musik, wie sie etwa durch die Begriffe Variation, Durchführung, Kontrapunkt und
so weiter repräsentiert wird, ist ein entwicklungsgeschichtliches Spätprodukt.
"Musikalische Logik" im Sinne Hugo Riemanns oder das
"synthetische Hören" im Sinne Besselers sind Errungenschaften der
europäischen Musikkultur des 18. Jahrhunderts. [Blau, S. 165] Blaukopf
fährt wie folgt fort, dabei eine völlig andere Herangehensweise an Musik
andeutend:
Solche
analytisch-synthetische Hörweise hat sich jedoch gegenüber anderen Hörweisen
keineswegs global durchgesetzt. Andere Hörweisen, die auf Analyse und Synthese
weitgehend Verzicht leisten, sind nach wie vor in der Gesellschaft fest
verankert, und im Bereich der Unterhaltungsmusik sind sie, wie man weiß, sogar
noch vorherrschend.
Hinweise auf "etwas Anderes"
gibt es auch an anderer Stelle in Hülle und Fülle. Schon auf der ersten Seite
von [Mazz1] gibt es folgende Abbildung, mit der das Feld der Musiksemiotik
abgesteckt wird:
Damit stellt Mazzola die Musiksemiotik
in einen genügend weiten Rahmen, der die Komplexität des Gegenstandes durchaus
abbildet. Dies wird bestärkt durch Sätze wie diese: The Denotator system has its very strict
limits and requires a supersystem of connotation to grasp deeper layers of
meaning. ... it became evident that the Denotator system is only a signifier
surface pointing at interpretative, performative, and emotional resp. social
meaning. [Mazz1, S.
38]
Der ontologische Ansatz erforscht
Syntax und Semantik am Objekt des Kunstwerks selbst. Jedoch:
Beim
"Verstehen" handelt es sich nicht nur um die Prüfung der
syntaktischen Anordnung von Zeichen, sondern auch um eine auf Wissen gestützte
"Interpretation" von Relationsgefügen im Sinne eines Abgleichs mit
internen Strukturen. Das eingesetzte Wissen ist dabei nicht immer aus den
empfangenen Informationen herleitbar, sondern wird z.B. auch über den
sozio-kulturellen Kontext bestimmt. [Matt,
S. 4]
Genauer: Im Gegensatz zu sprachlichen Zeichen besitzen musikalische Zeichen
keine eindeutig abbildende Funktion und können nur in definierten Kontexten mit
der Kommunikativität sprachlicher Zeichen verwendet werden. Musikalische
Denotate sind zudem selbstreferentiell in bezug auf ihre eigene
Erscheinungsform sowie der Beziehungen innerhalb ihres Systems. Durch diese
semantische Offenheit sind musikalische Zeichen frei für jede
"inhaltliche" Belegung, deren Sinn und "Bedeutung" erst
durch den Hörer zugewiesen wird. [Matt, S. 5]
Dieses letzte Zitat hört sich an wie
eine Umschreibung der "analogen" Kommunikation bei Watzlawick [Waz].
Tatsächlich wird darauf weiter unten im zitierten Text - und auch im
vorliegenden - Bezug genommen.
Ein Einstiegspunkt wird etwa durch die
Kommunikationstheorie von Watzlawick geliefert. Dort steht die pragmatische
Komponente der Kommunikation (neben Syntax und Semantik bzw. Sigmatik) im
Mittelpunkt der Diskussion. Soziales und
Kulturelles werden nicht durch Dinge, sondern durch Beziehungen konstituiert.
[Fuchs2, S. 27]. Der Mensch im Mittelpunkt von Kunst und Kultur, dazu die
heutige "Befindlichkeit" der Gesellschaft, wie sie sich z.B. im
Begriff der Postmoderne niederschlägt, dies umreisst in etwa die
Begrifflichkeit des "antropologischen" Ansatzes.
Kommunikation ist eng verbunden mit
Wahrnehmung. Die zunächst als Ganzheitlich gedachte undifferenzierte
Wahrnehmung "der Welt" als "Erlebnisstrom" wird durch
Auswertung von Handlungen und deren Folgen (unter Einsatz der menschlichen
Sensorik wie Sehen, Hören, Fühlen, .. ) differenziert und mit Bedeutung belegt.
Dabei entwickelt sich eine Vorstellung von den fünf Sinnen und es findet eine Spaltung der Welt in Subjekt
(Ich) und Objekt (das Außen) statt.
Bedeutungszumessung
und ihre Vergegenständlichung ... sind Teil eines "sich ins Verhältnis
setzen" des Individuums zu seiner Lebenssituation und zu sich selbst. [Schmuck]
Die
... sensorische Semantik erfüllt die Funktion, entsprechende symbolische Mittel
und Zurechnungsmuster zur Verfügung zu stellen, durch die eine bestimmte Klasse
von Erfahrungen überhaupt erst auf Körperpartien, Organe, Modalitäten,
Bewegungen, Inneres und Äußeres etc. bezogen werden kann und durch die die
entsprechenden Vorgänge überhaupt erst zu spezifischen Informationen werden
können. Entsprechende individuelle und kollektive Wissensbestände als Korrelat
dieser Semantik gestatten dann die Thematisierbarkeit von Wahrnehmungen und die
Möglichkeit, anhand sprachlicher und nichtsprachlicher Mittel auf Wahrnehmungen
zu verweisen, eigenes Wahrnehmen zu beschreiben wie auch andere aufzufordern,
sich bestimmte perzeptive Erfahrungen zu verschaffen. Durch die wechselseitige
Zurechnung von Wahrnehmungen und die Unterstellung, was man selbst wahrnehme,
könnten auch andere so erleben, ergeben sich überhaupt erst entsprechnde
Reziprozitäseffekte. Beispiele etwa aus Sozialisationspraktiken, die speziell
die Wahrnehmung betreffen ("Ich sehe was, was Du nicht siehst",
"Blinde Kuh") zeigen, dass ein diesbezügliches Wissen, die
zugehörigen Fertigkeiten und die jeweiligen Reziprozitätserwartungen erst
aufgebaut werden müssen. "Blinde Kuh" kann man erst spielen, wenn man
gelernt hat, dass man auch dann gesehen wird, wenn man selbst nicht sehen kann. [Loe
S. 13].
Semantik entsteht also aus Wahrnehmung
durch Handeln in einem spezifischen Kontext, die Syntax (das Vorher/Nachher,
Regeln der Kombinierbarkeit etc.) ergibt sich aus den dem Menschen eigenen
sensorischen Bedingungen der Wahrnehmung und aus den Handlungsmöglichkeiten.
Wird nun Semantik kommuniziert, so ist man auf die Übermittlung von Zeichen
angewiesen. Der Empfänger muss die Nachricht erfolgreich im Kontext seiner
Lebenswelt auf ein Bezeichnetes zurückführen. Nun trägt aber der Vorgang der
Kommunikation selbst zur Bildung des Kontextes bei und ist somit Teil des
kommunizierten Zeichens. In diesem Sinne sucht
sich die Semantik ihre Syntax. Die Bildung der Syntax erfolgt analog, ihre
Verwendung ist digital. [Schmuck] (Zu den hier verwendeten Begriffen
Digital und Analog siehe den Abschnitt Pragmatik.)
Dieser nichtlineare Zusammenhang macht
deutlich, wie wir durch Kommunikation "uns selbst" und "die
Welt" konstruieren.
Der "Kontext" kann auch als
"Sinnmedium" bezeichnet werden, im folgenden Zitat als
"Zwischen" bezeichnet.
Im
Sprechen (z. B. in einer Frage, aber auch in einer Behauptung) setze ich den
Anderen als Mitsprechenden voraus; wenn der Andere ebenfalls tatsächlich
spricht, so besteht das Verstehen offensichtlich darin, daß ein gemeinsamer
Sinn zustande kommt, und die Gemeinsamkeit reicht gerade soweit wie das
Verstehen „derselben“ Sinngehalte. Von diesen, jedem zugänglichen Sinnerfahrungen
her können wir Bubers Begriff
des Zwischen präzisieren und definieren:
Das
Zwischen ist der in Gegenseitigkeit von Sprechenden bzw. sinnhaft Handelnden
zugleich je gesetzte wie je empfangene Sinn, der einem jeden der Partner ganz,
aber je verschieden zukommt.
Die
jeweilige Verschiedenheit, in der das Zwischen den einzelnen Partnern zukommt,
ergibt sich daraus, daß jeder unvertauschbare Erkenntnisvoraussetzungen
mitbringt und daß es keine totale (univoke), sondern nur eine analoge Identität des Verstehens gibt. Der Sinn ist - trotz der Gemeinsamkeit und
Übereinkunft - ein jemeiniger (ein
Ausdruck von Edmund Husserl). Das räumliche Bild, das in dem Wort „Zwischen“
angesprochen ist, meint gerade die oben definierte Gegenseitigkeit: das
Gemeinsame stammt von keinem der Beteiligten allein, ist nicht rückführbar auf
Ich oder Du. Es ist nicht „im“ Einzelnen, sondern gerade die Beziehung, die
der Einzelne in seinen jeweiligen Sinnvollzügen ist, aber so, daß der Andere
diese Beziehung und diesen Sinnvollzug einerseits mitkonstituiert, anderseits a priori mit-voraussetzt.
[Hein, S. 32]
Es ergibt sich somit eine
Konstellation der folgenden Art:
Sinnmedium
Du
Der oben aufgezeigte Zusammenhang
zwischen Sensorik und Semantik motiviert einen schärferen Blick auf die
Wahrnehmung und deren biologische Grundlagen.
Die
Soziologie kann nicht darauf verzichten, die biologischen Aspekte musikalischen
Verhaltens in Rechnung zu stellen. So muß der Versuch einer Deutung
"magischer" Wirkungen der Musik in verschiedenen Kulturen scheitern,
wenn er nur ideelle Momente (die sicherlich bedeutsam sind) berücksichtigt und
wenn vom Einfluß der Musik auf das Vegetativum abgesehen wird. Die Wirkung
akustischer Reize auf das der bewußten Kontrolle des Menschen entzogene
vegetative Nervensystem bildet geradezu den Schlüssel zum Verständnis
suggestiver Wirkungen. Die feststellbare Veränderung der Pulsfrequenz als Folge
eines im Crescendo und Decrescendo abrollenden Trommelwirbels; die meßtechnisch
feststellbare Anpassung der Atemfrequenz an ein wechselndes Tempo der Musik;
die durch die Musik ausgelöste unbewußte motorische Aktion des Hörers - all das
verweist auf die biologischen Grundlagen der von Musik ausgehenden Wirkungen.
...
Manche Redensarten ("jemanden niederbrüllen", "Musik, die in die
Beine geht") deuten diese Einheit [des Motorischen mit dem
Musikalischen, H.-J. F.] heute noch an. Die Pose, die der
musikalisch gebildete europäisch-abendländische Musikhörer bei der Darbietung
eines musikalischen Kunstwerks einzunehmen sucht, läßt diese ursprüngliche
Einheit von Musik, Atmung, Herzschlag und Bewegung leicht vergessen. [Blau, S. 167]
Mit der Auflösung der Tonalität rückte
die Wahrnehmung als Ausgangspunkt der Kommunikation wieder stärker in den
Vordergrund:
Musik
wurde zu einem linearen Text, der Gefühle oder Gedanken ausdrückt. ... Die
Geschichte der Musik dieses [20.] Jahrhunderts läßt sich lesen als eine
Geschichte der Befreiung der Klänge von diesem die westliche Musiktradition
prägenden Schema. Die neuen Seh- und Hörweisen in Bildender Kunst und Musik
sind Ausdruck einer radikalen Veränderung in der Wahrnehmung. Es geht jetzt
nicht mehr um die objektive Beschreibung einer Idee oder einer ästhetischen
Gestalt, die sich von der sogenannten Wirklichkeit abhebt, sondern um die Art
und Weise, wie Wahrnehmung geschieht, d.h., wie Phänomene für den Betrachter
bzw. Hörer in Erscheinung treten. Damit sind auch die anthropologischen
Konstanten der Wahrnehmung, ihre Rückbindung an den Körper, wieder von Interesse.
Auch die Differenz zwischen Kunstwerk und Wirklichkeit, die Grenze zwischen
Kunst und Leben, erweist sich nun als Konstruktion der Wahrnehmung selbst. [Bernd Schulz in Minard, S. 12].
Wie sehr die heutige Lebenswelt Einfluß hat auf unsere spezifische Art der
Wahrnehmung und Erfahrung, beleuchtet der Erfolgsautor Michael Crichton auf
seine Weise:
Meiner
Ansicht nach hat es die neuzeitliche Welt dem Menschen erschwert, Wissen über
sich selbst zu erlangen. Immer mehr Menschen leben in riesigen Stadtgebieten,
umgeben von anderen Menschen und inmitten von Gegenständen, die aus der Hand
des Menschen stammen. Die natürliche Welt als Quelle für die Wißbegier des
Menschen über sich selbst gerät zusehends aus dem Blickfeld.
Überdies
sind wir im Verlauf der letzten hundert Jahre zunehmend zum Leben in einer
fremdbestimmten Welt übergegangen, in der elektronische Medien herrschen. Sie
haben ein Tempo in unser Dasein gebracht, das dem Wesen des Menschen in jeder
Beziehung fremd ist. Es ist atemberaubend, sich in einer Welt aus
Zehn-Sekunden-Spots aufzuhalten, die uns - einer wie der andere- auffordern,
etwas zu kaufen, zu tun , zu denken.
Ich
vermute außerdem, daß uns dieser beständige Ansturm auf eine gewisse ungesunde
Weise gefügig gemacht hat. Abgeschnitten von allem, nicht nur von unmittelbarer
Erfahrung, sondern auch von dem, was wir fühlen und empfinden, sind wir nur
allzu leicht bereit, Standpunkte zu übernehmen, die man uns vorsetzt,
Betrachtungsweisen, die nicht die unseren sind. ...
Ein
Mensch, der nicht an unmittelbare Erfahrungen gewöhnt ist, kann dazu gelangen,
daß er sie fürchtet. Wir sind erst bereit, ein Buch zu lesen oder eine
Ausstellung in einem Museum zu besuchen, wenn wir die Besprechungen darüber
gelesen haben, damit wir wissen, was wir denken müssen. Wir büßen das Vertrauen
in die Kraft unserer eigenen Wahrnehmung ein. Wir wollen den Sinn der Erfahrung
wissen, bevor wir sie machen.
Wir
fürchten uns vor der unmittelbaren Erfahrung und geben uns die größte Mühe, ihr
aus dem Weg zu gehen. ...
Zu
den schwierigsten Merkmalen unmittelbarer Erfahrung gehört, daß sie durch
keinerlei Theorien oder Erwartungen gefiltert wird. Es ist schwer, etwas zu
beobachten, ohne eine Theorie parat zu haben, die es erklären soll. Theorien
aber haben den Haken, daß sie, wie Einstein sagte, nicht nur erklären, was
beobachtet wird, sondern auch festlegen, was sich beobachten läßt. Wir gehen
dazu über, auf unsere Theorien gestützte Erwartungen zu entwickeln, und häufig
treten diese Erwartungen zwischen uns und das Erlebnis.
[Crich, S. 311 ff]
Zurück zur Musik:
Wenn
wir erfahren wollen, was Musik heute sein kann, so müssen wir an dem
elementarsten Punkt ansetzen, an dem Musik den Menschen trifft: in der
akustischen Wahrnehmung. Nach allem Gesagten ist es klar, daß der moderne Mensch
nur die Chance hat, Musik wieder wirklich aufzunehmen, wenn es ihm gelingt, die
Wahrnehmung seiner Sinne zu reinigen von der unglaublichen Verschmutzung, die
im Fall des Gehörsinnes nicht einmal primär durch den Lärm der modernen
Zivilisation hervorgerufen wird, sondern durch das sanfte Gift dauernder
akustischer Infiltration - und zwar einer Art von Infiltration, die nicht mehr
voll verarbeitet werden will. Demgegenüber ist die Anstrengung, wieder bewußt
zu hören, die Grundlage für alles weitere; nicht an das Was, sondern an das Wie
des Hörens ist hier gedacht. [Zender1,
S. 44].
Für Hans Zender ergibt sich:
Musik
kann heute sein ein Weg zur Erfahrung von Wirklichkeit durch die Reinigung und
Neudefinition der Wahrnehmung im Horizont der im musikalischen Kunstwerk
erscheinenden universalen Zeit.
[Zender1, S. 53].
Jede
Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt, derart, daß
letzterer den ersteren bestimmt und daher eine Metakommunikation ist.
[Watz, S. 56]. Dieses zweite der fünf bekannten Axiome von Watzlawick betont
noch einmal den Handlungscharakter von Kommunikation: nicht (nur) die
übermittelte Information ist wichtig, sondern der durch den Akt der
Kommunikation etablierte Kontext. Der Mensch kommuniziert, um seine Einbindung
in ein (soziales) Gefüge zu definieren, verändern, erlangen. [Schmuck]. Dies
ist auch der "Sinn" musikalischer Kommunikation.
Um den Beziehungsaspekt von
Kommunikation ein wenig zu erläutern, hier ein Auszug aus [Watz, S. 83 ff]:
Wie
wir bereits gesehen haben, setzen sich Menschen im Beziehungsaspekt ihrer
Mittteilungen nicht über Tatsachen außerhalb ihrer Beziehung auseinander,
sondern tauschen untereinander Definitionen ihrer Beziehung und damit implizite
ihrer selbst aus. Diese Ich- und Du-Definitionen haben ihre eigene
hierarchische Ordnung. Angenommen, A offeriert B eine Definition seiner selbst.
A kann dies auf verschiedene Art und Weise tun, doch wie immer er seine
Mitteilung auf der Inhaltsstufe formulieren mag, der Prototyp seiner Mitteilung
wird auf der Beziehungsstufe immer auf die Aussage "So sehe ich mich
selbst" hinauslaufen. Es liegt in der Natur der menschlichen
Kommunikation, daß B nunmehr drei Wege offenstehen, darauf zu reagieren, ....
B
kann als erstes A's Selbstdefinition bestätigen, indem er A in der einen oder
der anderen Weise mitteilt, daß auch er A so sieht. ...
Die
zweite mögliche Reaktion von B auf A's Selbstdefinition ist, diese zu
verwerfen. Verwerfung jedoch, wie schmerzhaft sie auch sein mag, setzt
zumindest eine begrenzte Anerkennung dessen voraus, was verworfen wird, und
negiert daher nicht notwendigerweise die Wirklichkeit des Bildes, das A von
sich hat....
Die
dritte Möglichkeit dürfte sowohl vom pragmatischen als auch vom
psychopathologischen Standpunkt aus die wichtigste sein. Es ist das Phänomen
der Entwertung der Selbstdefinition des anderen, die sich wesentlich von der
Verwerfung unterscheidet. .... Laing zitiert William James, der einmal
bemerkte: "Eine unmenschlichere Strafe könnte nicht erfunden werden, als
daß man - wenn dies möglich wäre - in der Gesellschaft losgelassen und von
allen ihren Mitgliedern völlig unbeachtet bleiben würde". Es ist wohl kaum
zu bezweifeln, daß eine derartige Situation zum "Selbstverlust"
führen würde. Die Entwertung ... hat nichts mehr mit der Wahrheit oder
Falschheit - sofern diese Begriffe hier überhaupt anwendbar sind - von A's
Selbstdefinition zu tun; sie negiert vielmehr die menschliche Wirklichkeit von
A als dem Autor dieser Definition. Mit anderen Worten, während eine Verwerfung
letztlich auf die Mittteilung "Du hast in deiner Ansicht über dich
unrecht" hinausläuft, sagt die Entwertung de facto: "Du existierst
nicht."
Im weitern Verlauf obiger fiktiver
Kommunikation reagiert natürlich A auf die Reaktion von B und der seinerseits
darin enthaltenen Definition seiner selbst usw. Man betrachte einmal unter
diesem Aspekt die Kommunikation des Komponisten mit seinem Publikum (und
diejenige des Publikums mit "seinen" Komponisten, deren Reaktion
darauf usw.; hierbei spielt natürlich die
im dritten Watzlawick'schen Axiom angesprochene Interpunktion der Ereignisse
eine Rolle, also die alte Frage nach dem Ei und der Henne).
Ein nützlicher Begriff aus [Watz] ist
der der analogen bzw. digitalen Kommunikation. Digitale Kommunikation begegnet
uns dort, wo denotative Aussagen zu Hause sind, etwa in der Wissenschaft.
Symbole und Zeichen besitzen eine evtl. durch Konvention festgelegte (und daher
wandelbare und "unsichere") Semantik sowie eine genau definierte und
vielschichtige Syntax. Zeichen lassen sich nach bestimmten Regeln kombinieren
und umordnen, und ergeben so neue (meist denotative) Aussagen. Sprache (als
Text, losgelöst vom realen Sprechen) ist digitale Kommunikation.
Analoge Kommunikation dagegen stellt
Ähnlichkeitsbeziehungen her und ist daher sehr viel weniger genau, ermangelt
einer eindeutigen Syntax, besitzt jedoch andererseits den Vorteil, sich durch
unmittelbare Erfahrungen aus der Lebenswirklichkeit ausdrücken zu können und
daher oft mit geringem Aufwand komplexe Sachverhalte übermitteln zu können. Als
Beispiel möge das Hören einer unbekannten Sprache dienen, die man etwa im Radio
vernimmt. Obwohl man "nichts versteht" (auf digitaler Ebene), kann
man doch relativ leicht erkennen, ob sich etwa Personen streiten, ruhig und
gelassen miteinander diskutieren oder etwa innig zugetan sind. Kommt dann noch
die Möglichkeit hinzu, Gebärden und Körpersprache zu beobachten, so kann oft
sehr detailliert auf den Inhalt der Kommunikation geschlossen werden.
Analoge
Kommunikation hat ihre Wurzeln offensichtlich in viel archaischeren
Entwicklungsperioden und besitzt daher eine weitaus allgemeinere Gültigkeit als
die viel jüngere und abstraktere digitale Kommunikationsweise. ... Es besteht
kein Zweifel, daß die meisten, wenn nicht alle menschlichen Errungenschaften
ohne die Entwicklung digitaler Kommunikation undenkbar wären. Dies gilt ganz
besonders für die Übermittlung von Wissen von einer Person zur anderen und von
einer Generation zur nächsten. Andererseits aber gibt es ein weites Gebiet, auf
dem wir uns fast ausschließlich nur der analogen Kommunikationsformen bedienen,
die wir von unseren tierischen Vorfahren übernommen haben. Dies ist das Gebiet
der Beziehung. [Watz,
S. 63].
Eine
Geste oder eine Miene sagt uns mehr darüber, wie ein anderer über uns denkt,
als hundert Worte.
[Watz, S. 64].
Digitale
Sprache hat, um es nochmals zu erwähnen, eine logische Syntax und ist daher
höchst geeignet für denotative Kommunikationen auf der Inhaltsebene. Während
der Übersetzung von analogen in digitale Mitteilungen müssen also logische
Wahrheitsfunktionen eingeführt werden, die im Analogen fehlen. Dieses Fehlen
macht sich vor allem im Fall der Negation bemerkbar, d.h. es gibt keine
Analogie für das digitale "nicht". Während es relativ einfach ist,
durch eine drohende Haltung die analoge Mitteilung "Ich werde dich
angreifen" zu machen, ist die Mitteilung "Ich werde dich nicht
angreifen" äußerst schwierig zu signalisieren. Hierbei pflegen wir uns der
digitalen Sprache zu bedienen, wobei allerdings immer fraglich bleibt, ob der
andere unseren Worten glaubt. [Watz,
S. 98].
Es scheint auf der Hand zu liegen,
dass Musik ihre Mitteilungen auf der analogen Ebene vorbringt. Der weiter oben
erwähnte logisch-analytische Aspekt, den die abendländische Kunstmusik der letzten
Jahrhunderte entwickelt hat und der nun als digitaler Teil der Kommunikation
aufgefasst werden kann, scheint allerdings manchmal den Blick dafür zu
verstellen. Eine Doppelfuge von Bach vermag auch denjenigen zu ergreifen, der
das Auftreten des zweiten Themas gar nicht bemerkt. Der veränderte „Klang“
teilt sich dem Hörer jenseits des analytischen Aspekts dennoch mit. Ähnlich
dürfte es sich mit dem weiter oben erwähnten Stück Dérive 1 von Boulez
verhalten. Die Hexachorde sind digitale Information, die sich einer Dekodierung
jedoch sträubt. Das eigentlich Wichtige spielt dagegen sich auf der analogen
Ebene ab, deren Übersetzung in die digitale Form eines analytischen Textes
durchaus scheitern kann, ja sogar häufig scheitern muß.
Um den Zusammenhang mit früher
Gesagtem herzustellen, sei hier noch einmal das folgende Zitat wiederholt
(siehe Seite 9):
Im
Gegensatz zu sprachlichen Zeichen besitzen musikalische Zeichen keine eindeutig
abbildende Funktion und können nur in definierten Kontexten mit der Kommunikativität
sprachlicher Zeichen verwendet werden. Musikalische Denotate sind zudem
selbstreferentiell in bezug auf ihre eigene Erscheinungsform sowie der
Beziehungen innerhalb ihres Systems. Durch diese semantische Offenheit sind
musikalische Zeichen frei für jede "inhaltliche" Belegung, deren Sinn
und "Bedeutung" erst durch den Hörer zugewiesen wird. [Matt, S. 5]
Max Fuchs zeigt den Zusammenhang von
Wahrnehmung, Handeln, Erleben, Kunst und Kultur in folgender Weise auf:
.... [Es] gilt auch für die Sinne die von Plessner ... ausgearbeitete Überlegung,
dass der Gundmodus des menschlichen Lebens seine Reflexivität ist: Der Mensch
sieht, hört, spürt, riecht etc. einen Gegenstand oder Prozess; gleichzeitig
erlebt er sich selbst als Sehenden, Hörenden, Spürenden etc. Diese sinnlichen
Prozesse werden in ästhetisch-künstlerischen Kontexten auf besondere Weise
"kultiviert". [Fuchs1, S. 9]
In
der künstlerischen Expressivität finde ich mich mit meiner eigenen
Emotionalität als Teil des Gattungswesens Mensch wieder. Die Partikularität des
Individuums wird im Erleben der Allgemeinheit der Gattung aufgehoben.
[Fuchs1, S. 5]
Kultur hat aber auch mit Wissen zu
tun, wie Lyotard expliziert:
Aber
weit entfernt, dass unter dem Terminus des Wissens einzig eine Menge von
denotativen Aussagen verstanden würde, zählen ebenso die Ideen vom
Machen-Können (savoir-faire), Leben-Können (savoir-vivre), Hören-Können
(savoir-écouter) usw. dazu. Es handelt sich also um eine Kompetenz, die über
die Bestimmung und Anwendung des einzigen Wahrheitskriteriums hinausgeht und
sich auf jene der Kriterien von Effizienz (technische Qualifikation),
Gerechtigkeit und/oder Glück (ethische Weisheit), klanglicher und chromatischer
Schönheit (autitive und visuelle Sensibilität) usw. ausdehnt. So verstanden ist
das Wissen das, was jemanden befähigt, „gute“ denotative Aussagen
hervorzubringen, aber auch „gute“ präskriptive, evaluierende usw. [Lyo, S. 64]
...
Der Konsens, der es erlaubt, ein solches Wissen abzugrenzen und zwischen dem,
der weiß, und dem, der nicht weiß (der Fremde, das Kind), zu unterscheiden,
macht die Kultur eines Volkes aus.
[Lyo, S. 66]
Welchen Stellenwert besitzt nun Kultur
für den menschlichen Alltag?
Die
anthropologische Sichtweise liefert ... eine Reihe fundamentaler Kulturfunktionen.
... Kulturfunktionen sind etwa die folgenden:
·
Entwicklung von Zeitbewusstsein im
Hinblick auf Vergangenheit und Zukunft,
·
Entwicklung von Raumbewusstsein,
·
Identitätsbildung von Personen und
Gruppen,
·
Herstellung und Aushalten von
Pluralität,
·
Angebot von Deutungen und
Deutungsmustern, Weltbildern,
·
Symbolisierung von
Gemeinschaftserfahrungen,
·
Angebote für Lebensführungen und
Lebensbeschreibungen (Biographie),
·
Angebot von Lebensstilen ....
·
De-Legitimation von Prozessen in den
gesellschaftlichen Bereichen der Politik, des Marktes, der Gemeinschaft, des
Rechts etc.,
·
Reflexivität je aktueller Formen von
Sittlichkeit und Moral,
·
Selbstbeschreibung von Einzelnen,
Gruppen, Gesellschaften, Zeitabschnitten, Selbstbeobachtung,
·
Angstbewältigung angesichts gesellschaftlicher
oder individueller Risiken,
·
Integration. [Fuchs1, S. 14]
Viele dieser Kulturfunktionen werden
schon seit jeher durch Musik wahrgenommen, wie ein kurzer Streifzug durch die
Menschheitsgeschichte zeigt:
Musik gibt es seit mindestens 200 000
Jahren (belegt durch Pfeifen). Schon im Aurignacien (vor ca. 60 000 Jahren,
zweite Hälfte der letzten Eiszeit, Crô-Magnon-Mensch) gibt es Pfeifen mit
Grifflöchern und Spaltpfeifen. [Wö, S.21ff] Musik war in allgemein
gesellschaftliche Tätigkeiten eingebunden, in Arbeit und Kult. Ziel war die
Beherrschung und Aneignung der fremden und kaum bekannten Natur. Erkennen,
Lernen, Wissenserwerb und -weitergabe führt zur freien Kombination der Dinge in
der Welt, zum Spielen. [Blau, S 8ff] Wie "ernst" und existentiell dies
Spielen allerdings war, wird verdeutlicht an (unserer heutigen Vorstellung von)
dem magischen Musikdenken: im Fall des Schlagens auf eine Trommel erzeugt der
motorische Impuls ein erwartetes hörbares Resultat. Beim Blasen in eine
Knochenröhre allerdings wird kein hörbares Resultat erwartet, der erklingende
Ton muss wohl die Antwort von etwas Lebendigem sein, etwa einem Geist oder
Dämon. [Sachs 1940 in Blau, S. 19]
Altchina [Wö, S. 38ff]:
Bis in die Zeit der mythischen fünf
Kaiser (3. Jahrtsd. v.C.) läßt sich die Kosmologie zurückverfolgen. Sie beruht
auf der Zahl und ordnet die Verbindung zwischen Musik, Kosmos, Natur und
Menschenleben. Es wurde ein Grundton festgelegt (gelbe Glocke), der nach jedem
Sturz einer Dynastie neu bestimmt wurde. Von ihm ausgehend gab es die 5, später
12, Lü (Gesetz), die das gesamte Weltbild ordneten. Aus einer Auswahl der 12 Lü
wurde eine Tonleiter gebildet.
Ägypten [Wö S.44ff]:
Schon im alten Reich (2800-ca.2160
v.C.) gab es eine hochentwickelte Musikpflege mit Berufsmusikern. Primitive
Mehrstimmigkeit, antiphonale Kultgesänge, Bogenharfen, Flöten, Trompete.
Sängerschulen im neuen Reich (1580-332, Eroberung durch Alexander den Großen).
Sumerische Kultur, Babylonien,
Assyrien, Kleinasien, Syrien [Wö S. 45ff]:
Ab 3000 v.C. Musik steht immer in
Zusammenhang mit dem gesprochenen oder gesungenen religiösen Wort. Blütezeit
des Instrumentariums in der Ur I-Zeit (2350 - 2150): Leier, Harfe,
Klangstäbe... Berufsmusiker(-innen) z.T. im Priesterrang.
Palästina
[Wö S.46ff]:
1700 v.C. - 70 n.C. (Ältere) Zeit der
Patriarchen und Richter: Singen, Spielen und Tanzen sind Gemeingut des ganzen
Volkes wie bei den Naturvölkern. Vor allem sind die Frauen die Träger der
musikalischen Kultur. Der Charakter der Musik ist hymnisch, pathetisch.
Griechenland [Wö 49ff]:
Ab 2600 (frühminoische Zeit Kretas)
bis um 350 v.C. Bis heute wirksame Vorstellungs- und Denkweisen:
- Musiké: Musik als Idee (im Dienste
der Dicht- und Tanzkunst). Musik durchdringt den ganzen göttlich-menschlichen
Lebensraum. Künstlerisches Erleben und ethisch bildende Kräfte sind untrennbar
in einer Einheit verwachsen.
- griechische Tragödie.
- Lehre vom Ethos und der Katharsis.
- Musikwissenschaft.
Musik ist nicht Beigabe, sondern
wesentlicher Bestandteil bei Kult, Staatsfesten, Feiern oder der Geselligkeit.
Wichtige Rolle beim künstlerischen Wettbewerb (Aulosmusik <->
Kitharamusik).
Hellenismus [Wö S.63ff]
Alexander der Große - Kaiser Augustus
(336 v.C. - ca. 14 n.C.)
Zerfall der Musiké: Unterscheidung
zwischen Musik (Melos), Wort (Logos) und Tanz (Rhythmos). Erst jetzt kann man
von Musik im Unterschied zu Dichtung sprechen. Ästhetische Auffassung der Musik
neben ethischer Auffassung. Einreihung der Musik ins Quadrivium (Arithmetik,
Geometrie, Astronomie und Musik) im 1. Jahrh. v.C. mit seiner Gültigkeit für
das gesamte Mittelalter.
Mittelalter [Wö S. 153]:
Theoretische Grundlage während des
gesamten Mittelalters war die vom Römer Boethius (+524) geschaffene Dreiteilung
der Musik:
- musica mundana ist die dem
menschlichen Ohr nicht zugängliche Sphärenmusik.
- musica humana ist die Harmonie
zwischen Leib und Seele.
- musica instrumentalis ist das Spiel
der Instrumente, also die eigentliche Musik unserer Menschenwelt, aber sie ist
nur eine Seinsart neben den beiden anderen. Die Kontemplation ist der göttliche
Endzweck der Musik. Erst ab ca. 1300 tritt neben diese Theologisierung der
Musik eine Ästhetisierung, Musik als Wissenschaft und als Kunst.
Zurück zu unserer heutigen Zeit:
Der
Kulturdiskurs ist wesentlich ein Diskurs des Unterschiedes - auch: des
Unterschiedes zwischen hochfliegenden Plänen einer Humanisierung von Mensch und
Gesellschaft und der traurigen Realität. [Fuchs2, S.25]
Wie diese komplexe und
"virtuelle" Realität aussieht, wird von Fuchs wie folgt
schlaglichtartig beleuchtet:
Die
realen ökonomischen Warenbewegungen machten [1995] nur noch 1,6% der
Geldbewegungen aus (Hübner 1998, S. 37). Es schwappen also gignatische
(virtuelle) Finanzströme um die Welt, deren Quelle etwa die nicht eingesetzten
Ölerträge sind, die in - oft
hochspekulativen - Transaktionen das Wirtschafts-leben ganzer Staaten lahm
legen können.
[Fuchs2, S. 15]
Fuchs fährt fort:
Tatsache
ist aber auch, dass "Kultur" als gemeinsame Lebensform, als System
von geteilten Werten und Überzeugungen, die sich immer auch symbolisch und
künstlerisch mitteilen, eine so starke Bedeutung für die Menschen hat, dass sie
in der Tat oft zum Gegenstand von Angriffen und Unterdrückung werden.
"Kultur" ist nicht das Harmlose, der schöne aber verzichtbare
Schmuck, sondern das, was Leben und Identität entscheidend ausmachen. So auch
Terry Eagleton (2001, S181f): Einerseits sind "die hauptsächlichen
Probleme ... Krieg, Hunger, Armut, Krankheit, Verschuldung, Drogen,
Umweltverschmutzung, die Entwurzelung ganzer Völker -, .... keineswegs
besonders 'kulturell'". Aber: "Kultur ist nicht nur das, wovon wir
leben. In erheblichem Maße ist sie auch das, wofür wir leben. Liebe,
Beziehungen, Erinnerung, Verwandtschaft, Heimat, Gemeinschaft, emotionale
Erfüllung, geistiges Vergnügen, das Gefühl einer letzten Sinnhaftigkeit - dies
alles steht den meisten von uns im Grunde genommen näher als die Charta der
Menschenrechte oder Handelsverträge." [Fuchs2, S.29]
Nachdem so viel über Kultur geredet
wurde, fällt es merkwürdig schwer, diese in der heutigen Lebenswelt dingfest zu
machen. Es gibt viele sich widersprechende und einander ausschließende
Meinungen dazu, was "unsere" Kultur ausmacht. Wir leben in einer
"multikulturellen" Zeit.
Vielfalt der Kulturen und
Weltanschauungen bringt Werteverlust, Verunsicherung und Orientierungslosigkeit
mit sich. Lyotard benutzt den Wittgensteinschen Begriff des Sprachspiels, um
diese Situation zu umreissen:
Die
Frage des sozialen Zusammenhangs ist als Frage ein Sprachspiel, dasjenige der
Frage, das unmittelbar demjenigen, der sie stellt, demjenigen, an den sie sich
richtet und dem zur Frage gestellten Referenten eine Posititon zuteilt. Diese
Frage ist also schon der soziale Zusammenhang.
Andererseits
ist es sicher, dass der sprachliche Aspekt in einer Gesellschaft, in der die kommunikative Komponente, sowohl als
Realität wie als Problem, jeden Tag deutlicher wird, eine neue Bedeutung
erhält, und dass es oberflächlich wäre, ihn auf die traditionelle Alternative
des manipulierenden Sprechens oder der einseitigen Nachrichtenübermittlung auf
der einen bzw. des freien Ausdrucks oder des Dialogs auf der anderen Seite zu
reduzieren. [Lyo, S.
57]
Lyotard postuliert das "Ende der
großen Erzählungen" des Abendlandes. Damit meint er die Sprachspiele, die
als Meta-Erzählungen das "Wissen" legitimieren und die Motive und
Erwartungen der abendländischen Geistesgeschichte formulieren. Z.B. ist die
"Erzählung" von der fortschreitenden Humanisierung des Menschen für
Lyotard mit Auschwitz zerstört worden. Weiteres Anhäufen von Wissen führt weder
zu mehr Freiheit (siehe Auschwitz) noch zu mehr Vernunft noch zu mehr Verstehen
als Voraussetzung für Wahrheit.
Es
sind vor allem Theodor Adorno und Michel Foucault gewesen, die uns eine
kritische Lesart der Moderne eröffnet haben. Bei aller Unterschiedklichkeit
ihrer Vorgehensweisen eint sie eine Sichtweise, "die den
Zivilisationsprozeß als einen Vorgang der technischen oder instrumentellen
Rationalisierung begreift. ... Der Preis dieses epocheübergreifenden Rationalisierungsvorgangs
wird deutlich, sobald das betrachtet wird, was Foucault 'dunkle Kehrseite',
Adorno und Horkheimer die 'unterirdische Geschichte' der europäischen
Modernisierung nennen: es ist die durch den rechtlichen Überbau bloß verdeckte
Leidensgeschichte der fortschreitenden Disziplinierung und Unterwerfung
lebendiger Subjektivität" (Honneth, 1988, S. 135). Das zentrale Problem
dieser Moderne besteht gerade darin, daß in eine Welt scheinbar gesicherter
zivilisierter Rationalität das "Dämonische", das völlig Irrationale,
einbricht, "daß die Zivilisation ihrerseits das Antizivilisatorische
hervorbringt und es zunehmend verstärkt", wie es Adorno so einprägsam
formuliert hat. [Keupp,
S. 2]
In der "Moderne" waren die
Meta-Erzählungen noch in Kraft. Nun jedoch leben wir im Zeitalter der
"Postmoderne".
Terry
Eagleton, der in Oxford eine Professur für Kritische Theorie innehat, hat das
postmoderne Lebensgefühl so beschrieben: "Wir befinden uns in einem Prozeß
des Erwachens aus dem Alptraum der Moderne mit ihrer manipulativen Vernunft und
ihrem Fetisch der Totalität - des Erwachens aus der Moderne in den lässigen
Pluralismus der Postmoderne, jenes heterogene Sortiment von Lebens-Stilen und
Sprachspielen, das auf den nostalgischen Drang verichtet, zu totalisieren und
sich selbst zu legitimieren" (in "Times Literary Supplement" vom
20. Februar 1987).
[Keupp S. 1]
Nun ist keineswegs die "Anything
goes"-Mentalität die Alternative zur Moderne. Stattdessen bemüht sich die
Postmoderne um Ausgleich und Vermittlung:
Das
ist es letzlich, wofür die Idee Postmoderne steht: eine Existenz, die völlig durch die
Tatsache bestimmt und definiert ist, daß sie post ist (hinterher kommt) und
überwältigt ist vom Bewußtsein, sich in einer solchen Lage zu befinden.
Postmoderne bedeutet nicht notwendig das Ende, die Diskreditierung oder
Verwerfung der Moderne. Postmoderne ist nicht mehr (aber auch nicht weniger)
als der moderne Geist, der einen langen, aufmerksamen und nüchternen Blick auf
sich selbst wirft, auf seine Lage und seine vergangenen Werke, nicht ganz
überzeugt von dem, was er sieht, und den Drang zur Veränderung verspürt.
Postmoderne ist die Moderne, die volljährig wird: die Moderne, die sich selbst
aus der Distanz betrachtet statt von innen, die ein vollständiges Inventar von
Verlust und Gewinn erstellt, sich selbst psychoanalysiert, die Absichten
entdeckt, die sie niemals zuvor gründlich anaysiert hat, und findet, daß sie
sich gegenseitig ausschließen und widersinnig sind. Postmodern ist die Moderne,
die sich mit ihrer eigenen Unmöglichkeit abfindet; eine sich selbst
kontrollierende Moderne, eine, die bewußt aufgibt, was sie einstmals unbewußt
getan hat. [Baumann 1990, zitiert in Keupp, S. 4]
Lyotard rückt die "kleinen
Erzählungen" in den Vordergrund: die vielfältigen "Sprachspiele"
des Alltags ergeben ein Netzwerk der Bedeutungen, dessen Knoten die einzelnen
Menschen und Menschengruppen sind. Aktivitäten eines dieser Knoten verändert
das gesamte Netzwerk einschließlich sich selbst. Somit ist alles sowohl im Fluß
und variabel als auch eingebettet im Ganzen.
Jeder
Sprachpartner unterliegt also während der ihn betreffenden „Spielzüge“ einer
„Umstellung“, einer Anderswerdung - welcher Art diese auch immer sein mögen -
nicht nur in seiner Eigenschaft als Empfänger und Referent, sondern auch als
Sender. Diese „Spielzüge“ rufen unfehlbar „Gegenzüge“ hervor, doch jeder weiß
aus Erfahrung, dass diese letzteren nicht „gut“ sind, solange sie nur reaktiv
sind. [Lyo, S. 58]
Anhand eines urtümlichen Beispiels
erklärt Lyotard die Funktionsweise der "kleinen Erzählungen":
So
beginnt etwa ein Cashinawa-Erzähler seine Geschichte immer mit einer
feststehenden Wendung:“Dies ist die Geschichte von..., so wie sie immer gehört
habe. Jetzt werde ich sie erzählen, hört sie an.“ Und er beendet sie mit einer
anderen, gleichfalls unveränderlichen Wendung: „Hier endet die Geschichte von
.... Der, der sie euch erzählt hat, ist ... (cashinawischer Name), bei den
Weißen ... (spanischer oder portugiesischer Name)“.
....
Die durch dieses Beispiel illustrierte pragmatische Regel ist
selbstverständlich nicht verallgemeinerbar. Sie gibt aber einen Hinweis auf
eine Eigenschaft, die dem traditionellen Wissen allgemein zuerkannt wird: Die
narrativen „Rollen“ (Sender, Empfänger, Held) sind so verteilt, dass das Recht,
die eine, nämlich jene des Senders, zu besetzen, sich auf den doppelten Umstand
gründet, die andere, also die des Narratärs [dem erzählt wird], eingenommen zu
haben, und durch den getragenen Namen bereits von einer Geschichte erzählt
worden zu sein; das heißt bei anderer narrativer Gelegenheit in die Position
des berichteten Referenten gestellt worden zu sein. Weit entfernt, sich an
einzelne Funktionen der Äußerung zu binden, bestimmt das in diesen Erzählungen
beförderte Wissen also mit einem einzigen Schlag sowohl, was gesagt werden
muss, um gehört zu werden, als auch, was gehört werden muss, um sprechen zu
können, als endlich, was gespielt werden muss (auf der Szene der durcherzählten
Realität), um zum Gegenstand einer Erzählung werden zu können.
Die Sprechakte, die für dieses Wissen
relevant sind, werden also nicht nur vom Sprecher, sondern auch vom
Angesprochenen und ebenso vom Dritten, von dem die Rede ist, ausgeführt. Das
Wissen, das sich aus einem solchen Dispositiv ergibt, kann, im Gegensatz zu
jenem, das wir „entwickelt“ nennen, als „dicht“ erscheinen. Es lässt klar
erkennen, wie die Tradition der Erzählungen gleichzeitig jene von Kriterien
ist, die eine dreifache Kompetenz definieren, Sagen-Können, Hören-Können,
Machen-Können, in der sich die Beziehungen der Gemeinschaft zu sich selbst und
zu ihrer Umgebung einspielen. Das, was mit den Erzählungen überliefert wird,
ist die Gruppe pragmatischer Regeln, die das soziale Band ausmachen. [Lyo, S. 69f]
Doch
scheint mir insbesondere der Gedanke eines globalen Referenzsystems ertragreich
zu sein. Damit ist (mit meinen Worten) gemeint, dass immer mehr (lokale)
Vorstellungen über Werte, symbolische Ausdrucksformen und Lebensstile über die
weltweit vernetzten Informationssysteme zugänglich und von jedem Einzelnen und von
Gruppen genutzt werden können. Dies Bedeutet gerade nicht Angleichung, sondern
in Beziehung setzen, Differenz- oder Ähnlichkeitserfahrungen machen zu können
und auf diese Weise Bewusstheit über die eigene Lebensform zu erlangen. Dies
ist daher ein zutiefst sozialer Akt, der selbst dann zu einer Art sozialer oder
kultureller Vergemeinschaftung führt, wenn Identität nicht das Ergebnis ist:
Ich habe mich nämlich mit meinen Vorstellungen in das vorhandene soziale und
kulturelle Beziehungsnetz eingeklinkt und kann dieses alleine durch diese
Anreicherung verändern. Auch dieses mögliche Ergebnis, dass bestimmte
Praktiken, Wertungen oder Sichtweisen überhaupt nicht integrierbar sind, sind
ein positives Ergebnis, da nunmehr bewusst mit der Differenz umgegangen werden
kann. [ Fuchs 2 S.
34]
Inzwischen
hat in jeder Kunstwissenschaft ein Diskurs begonnen, der zeigt, inwieweit in
der jüngeren Geschichte jeder Kunstsparte Elemente der Postmoderne
(Dezentrierung, Auflösung des Subjekts und der Wirklichkeit, Dekonstruktion,
Abkehr von verbindlichen Traditionen und Stilen, Auflösung herkömmlicher
Ordnungsvorstellungen, Verabschiedung des Werkes und des Autors, Einkehr des
Spielerischen, Ironischen, Verabsolutierung der Zeichenebene, Spiel mit
Oberfläche etc.) lange vor der Rede über die "Postmoderne"
vorgefunden werden können.
[Fuchs2, S. 36]
Die
aktuellen Gesellschaftsdiagnosen werden heute auch in weniger entwickelten
Ländern zur Beschreibung ihrer Gesellschaft verwendet. Das bedeutet, dass
offenbar Wandlungs- und Zerrüttungsprozesse wie Pluralisierung und
Individualisierung auch dort auftauchen, wo sich eine industrielle Moderne noch
gar nicht herausgebildet hat und sich auch nicht mehr herausbilden wird. Die
"empirische Basis" der (post-)modernen Gesellschafts- und Kulturentwicklung,
nämlich reale Dezentrierungs- und Auflösungserscheinungen, liegt also auch hier
vor. Es ist daher wenig verwunderlich, dass die oben angedeuteten
Entwicklungstrends auch in den Künsten international auftauchen. Der
Kunstdiskurs, die Verhandlung von Gesellschaft und Künsten in den Künsten
selbst, ist ein globaler Diskurs. Dies ist bereits ein Erbe der Moderne, die
auf allgemeine Werte, Prinzipien, Verfahren usw. setzte ... . Hier knüpft der
internationale Charakter der postmodernen Kunstentwicklung an, auch wenn sich
nunmehr statt einer einzigen künstlerischen Weltsprache viele Ausformungen
ausbreiten. [Fuchs2,
S. 38]
In den vorangegangenen Abschnitten
wurde die Musik als Kommunikation vom anthropologischen Ansatz her betrachtet
und verglichen mit dem vorwiegend analogen Beziehungsaspekt in Watzlawicks
Kommunikationstheorie. Ebenso kann unter postmodernen Gesichtspunkten das
Netzwerk der multikulturellen Gesellschaft als eine ständige Definition
gegenseitiger Beziehungen durch Teilnahme an "Sprechakten" begriffen
werden. "Kultur" wird nicht
aufgefasst als vorläufiger Höhepunkt einer lange gereiften Entwicklung, sondern
als fortlaufender Prozess der "Selbstfindung", Bestätigung und
Abgrenzung, ja sogar als Prozess der Konstruktion der (Lebens-)Wirklichkeit.
Dabei wird das narrative Element (die "kleinen Erzählungen")
besonders betont.
Wie Musik und Kunst in diesem Sinne
ganz vordergründig wirken können, beschreibt Fuchs wie folgt:
Postcoloniale
Theoretiker zeigen zudem die Funktionsweise von Theoriebildung als
Konstruktion, etwa wenn sie zeigen, ... wie mit "Aida" ein
Ägyptenbild, mit "Madame Butterfly" ein Japan-Bild, mit
"Salammbô" ein Bild von Nordafrika oder mit "Kim" und dem
"Dschungelbuch" ein Indien-Bild ... entworfen wurde und wie diese
Bilder durchaus wirkungsmächtig im Bewusstsein der Bevölkerung und daher auch
für die Politik waren.
Fuchs 2002 S. 32]
Doch auch im "Tiefengrund"
wirkt die Musik direkt auf das Leben ein, wie weiter oben schon angedeutet
wurde.
So
gesehen sind in vorfindlicher Musik stets auf irgendeine Weise Möglichkeiten
zur Bewältigung, Gestaltung, Steigerung subjektiver Befindlichkeit historisch
kumuliert. Im Vollzug der musikalischen Bewegung hebt sich in meinem Befinden
das Wesentliche, Überdauernde, Typische gegenüber deren bloßen Zufälligkeiten
und Zerstreutheiten meines Befindens heraus. ... Meine eigene Befindlichkeit
tritt mir in der Musik in überhöhter, verallgemeinerter, verdichteter Form
entgegen, ohne daß dabei die sinnlich-körperliche Unmittelbarkeit meiner
Betroffenheit reduziert wäre. ... Ich mag aber über die Musik ... eine neue
Distanz zu meinen aktuellen emotionalen Lebensäußerungen gewinnen, wobei diese
Distanz nicht nur "kognitiver" Art ist, sondern ihre eigene
unverwechselbare Erfahrungsqualität gewinnt: Als "innere Ruhe",
Übersicht, Gelassenheit, bis hin zur kontemplativen Versunkenheit als Gegenpol
zu musikalischer Extase. [Holzkamp
1993, zitiert in Fuchs1, S. 46]
Die postmoderne Situation zeitigt
allerdings Konsequenzen:
Die
Poetik der Postmoderne läßt sich ... mit dem Begriff der Simultanisierung erfassen. Es geht darum, die Totalität der Zeit zu denken, die Vergangenheit ebenso wie die
Zukunft, und Zukunft und Vergangenheit ebenso wie die Gegenwart. Und
"denken" heißt für den Musiker wie für den Philosophen, das, was zur
Ankunft drängt, zur Anwesenheit kommen zu lassen (was zu unterscheiden ist von
der bloßen Dimension der "Gegenwart"). Sämtliche Ereignisse -
klangliche wie nichtklangliche - sind somit ko-präsent: im Gedanken der zeitlichen Kopräsenz geht die Postmoderne über das
Punktuelle des "Augenblicks" der Moderne hinaus; sie läßt
insbesondere den Einbruch einer Vielzahl von aus verschiedenen Epochen
stammenden Stilen zu und entzieht dem Postulat der stilistischen Einmaligkeit,
das dem Monoideismus der Modernen innewohnt, die Legitimation. [Charles, S.
153]
Letzendlich wird sogar der Werkbegriff
in Frage gestellt:
Der
Werkbegriff der klassischen Moderne ist hinfällig geworden. Dieser bedeutet
idealtypisch, dass ein "Künstler in einem privaten Raum seine individuelle
Persönlichkeit in ein formvollendetes Kunstwerk entäußert, das, falls es
Anerkennung findet, in einem öffentlichen Raum ... vom Publikum kontemplativ
betrachtet werden kann". (Ties in Kleinmann/Schmücker 2001, S. 208). Dieser
Werkbegriff wurde durch die Avantgarde gezielt zerstört, durch die Entwicklung
der modernen Kunst in entscheidenden Dimensionen in Frage gestellt: die Abkehr
vom "Formvollendeten" oder sogar vom Artefakt (ready mades), durch
Montagetechniken, durch Unsichtbarmachen und schließlich durch Möglichkeiten
der Digitalisierung (Rötzer 1991). ...
Es
gibt heute in der philosophischen Ästhetik Versuche einer Neufassung des
Kunstbegriffs, die sich an der aktuellen Kunstentwicklung orientieren. Die
klassischen Bestimmungen von Kunst, "eine Sichtweise, Weltauffassung, ein
Weltbild, Weltverhältnis, Weltweisen oder einfach Welten zu erstellen, zu
reflektieren oder darzustellen" (Hilmer in Kleinmann/Schmücker 2001, S.
88) werden überprüft und präzisiert in beiden Richtungen: in Richtung Subjekt
über eine Auseinandersetzung mit "ästhetischer Erfahrung" und in
Richtung Objekt über eine Neubestimmung des Begriffs des
"Kunstwerks". Ästhetische Erfahrung ist dabei eine
"kontemplative, auf einen bestimmten Wahrnehmungsgegenstand gerichtete
Aufmerksamkeitskonzentration, die um der Gewahrung der Eigenheit dieses
Gegenstands willen erfolgt". "Kunstwerke" zeichnen sich dann
durch ihre kunstästhetische Funktion aus, eine besondere ästhetische Erfahrung
auszulösen, nämlich eine solche, "die in ein Verstehen einmünden kann und
will" (Schneider in Kleinmann/Schmücker 2001, S23f.) [Fuchs2, S
39f]
Eine positive Formulierung künstlerischer Merkmale der Postmoderne findet man in nahezu jeder Veröffentlichung zu diesem Thema. Beispielhaft wird hier der Darstellung in [Busch] gefolgt, die speziell der Techno-Musik als "postmoderne Kunst par exellance" gewidmet ist, jedoch auf alle Künste angewendet werden kann:
·
Zur Moderne gehört die Toleranz, „die
Postmoderne hingegen fordert im Umgang mit Pluralität, und damit Dissens, die
Fähigkeit, die Andersartigkeit anzueignen. Wolfgang Welsch nennt dies
´Transversalität´, die Fähigkeit des Wechsels, des Bedenkens anderer Möglichkeiten.“ (Martin Honecker, Popanz
Postmoderne. Theologische Kritik an einem inflationierten Begriff) ...
·
Postmoderne ist pluralistisch und
integrativ, nicht fundamentalistisch und exklusiv. ... erlaubt in sich
vielfältige Stilarten ..., kennt keine Alters-, Geschlechts- und
Statusunterschiede, ...
·
Techno mit seiner Anti-Narrativität
kennt wie die Postmoderne keine großen (utopischen) Leitideen,
Wort-Botschaften, Absolutismen und
Fundamentalismen, Uniformitäts- und Einheitsvorstellungen mehr.
·
Techno und Postmoderne bilden
Zitatkulturen; sie benutzen ein Kunstwerk als Gelegenheit, ein anderes zu
schaffen; der Autoren- und
Künstlergedanke wird zersetzt.(Ulf Poschardt, DJ-Culture) Die
Neu-Einschreibung alter Tradition in die Neuzeit als Neu-Wahr-nehmung von
Verdrängtem in der Gegenwart gelingt nur durch die Zitation.
·
... Postmoderne bemüht sich, die Kluft
zu schließen, die Grenze zwischen Subkultur und Massenkultur als Widerstand und
Ergebung, die Grenze zwischen Modernem und Archaischem, die Grenze zwischen
Trivialität und philosophischem Anspruch, die Grenze zwischen dem Wunderbaren
und dem Wahrscheinlichen, zwischen dem Wirklichen und dem Mythischen ..
·
Techno ist ein wesentlich ästhetisches
Phänomen (aisthesis = Wahrnehmung): “Die Postmoderne wendet sich von den
kritisch-rationalen Kategorien des Denkens ab und ästhetischen zu, in der
Einsicht, daß die veränderte Wirklichkeitserfahrung nur noch mit Hilfe einer
gesteigerten Wahrnehmungssensibilität denkerisch verstehbar ist.“(Joachim
Kunstmann, Christentum in der Optionsgesellschaft.) Es geht um
wahrnehmungskompetentes Denken; denn Wahrnehmung selbst hat eine originäre
Einsichtsqualität.(Wolfgang Welsch, Ästhetisches Denken)
Dies alles gerinnt für Max Fuchs zu
einigen Kernfragen künstlerischen Handelns:
Im
Zuge der Postmoderne stellen sich als ästhetische Grundfragen etwa die
folgenden:
-die
Auflösung von Stilen zu Gunsten von Bricolage, was insbesondere die Frage des
historischen Bewusstseins und seiner Vergegenständlichung in der Kunst stellt;
-die
Frage nach der Referenz, also die Thematisierung der sigmatischen und
semantischen Funktion bzw. die These von der Verselbständigung der Zeichen ohne
Referenz;
-Fragen
der Konstruktion - als Schaffung von Neuem, als kreativem Akt - und ihr
Verhältnis zur Dekonstuktion. Zugleich kehren archaische Denkmotive zurück:
etwa der Mythos (gegen Vernunft);
-und
immer wieder die Frage danach, ob eine Kunstproduktion in der Warengesellschaft
nicht doch von der Logik der Warenförmigkeit so überlagert wird, dass genuine
Kunst- (als Kultur-)funktionen nicht mehr erfüllt werden. [Fuchs 2001, S. 13]
Ein kleiner Wechsel der Perspektive
bringt die bisher erörterten Gedanken in einen zwanglosen Zusammenhang mit
fernöstlich angehauchten Begriffen von Mythos und Magie. Ich finde es anregend,
Sätze aus dem Buch "Die Magie der Töne" von Dane Rudhyar mit
anthropologischer Kommunikationstheorie und postmoderner
Gesellschaftsdiskussion zu vergleichen (und dabei die esoterischen Aspekte des
Buches geflissentlich zu überlesen).
Das erste Axiom Watzlawicks etwa,
nämlich Man kann nicht nicht kommunizieren,
eröffnet das oben genannte Buch, allerdings in folgenden Worten:
Das
organische Leben in der Biosphäre der Erde verlangt, daß Organismen Beziehungen
zu anderen Organismen aufnehmen. Die Menschen sind besonders darauf angewiesen,
bleibende Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen; daher die Abhängigkeit
von der hochentwickelten Fähigkeit, mit anderen zu kommunizieren.
Und weiter:
Magie
ist kein archaisches Konzept.- Sie ist die häufigste Handlungsweise in der
Gesellschaft. ...Alle menschlichen Tätigkeiten sind der Absicht nach magisch. [Rud, S. 37f]
Magie
ist ein bewußter Willensakt, der durch eine besondere Form verdichtet wird und
sich auf ein bestimmtes Ding oder Wesen richtet. [Rud, S. 36]
Dies gilt für Kommunikation
schlechthin, wie in einer „reflexionstheoretischen Semiotik“ dargelegt wird:
Das
Kommunikative besteht darin, daß handelndes oder verbales „Sprechen“ zugleich
ein „Hören“ ist, Einwirkung auf das Andere (den Anderen) und zugleich freies
Einlassen seiner Einwirkung - Mitteilungsgeschehen qua Einwirkung, worin ich
den Anderen praktisch verändere, indem er sich theoretisch verändert, und worin
ich mich theoretisch verändere, indem der Andere mich praktisch verändert.
Darin ist es Einheit von Setzen und Empfangen, von Praxis und Theorie auf der
Seite der Praxis. [Hein, S. 45]
Zurück zu Rudhyar:
Magie
... ist ein Akt, der den magisch Handelnden befähigt, ein lebendiges Wesen
dadurch zu beherrschen, daß er den NAMEN des Wesens erklingen läßt. ...
Magische Tätigkeit bedeutet, Kommunikation herzustellen. In der Ton-Magie kann
diese Kommunikation unter dem Gesichtspunkt der Resonanz betrachtet werden. [Rud, S. 36]
Die hier vorgelegte
"Definition" von Magie besagt also, dass Magie ein kommunikativer Akt
(evtl. ein "Sprechakt") ist, der ein bestimmtes Ziel verfolgt. Man
könnte auch sagen, dass die Kommunikation neben einem Inhaltsaspekt noch ein
"magisches Moment" enthält, nämlich den Beziehungsaspekt, der uns
schon weiter oben begegnet ist. Dieser Beziehungsaspekt ist "magisch",
da er einen starken analogen Anteil besitzt, dem es zwar an eindeutiger
Semantik mangelt, der es aber fertigbringt, sozusagen ohne Worte zum Beispiel
eine Ich- Du-Beziehung auszudrücken.
Im Abschnitt über Wahrnehmung haben
wir gesehen, dass die Semantik analoger Mitteilungen stark von der Sensorik
(den biologischen Gegebenheiten) des Menschen abhängt. Z.B. würde ich meinen,
dass ein heftiges Orchestercrescendo "Angst" auslöst nicht deshalb,
weil dies aus irgendwelchen strukturellen Merkmalen der Musik folgt, sondern
einfach deshalb, weil plötzlicher "Lärm" durch Reizung gewisser nahe
am Ohr gelegener (entwicklungsgeschichtlich alter) Nervenbahnen entsprechende
physiologische Reaktionen hervorruft. Damit wird die "magische"
Handlung z.B. des "Brüllen" als durchaus handfeste Einwirkung auf den
Körper erlebt.
Man beachte, dass in obigem Zitat
nicht unbedingt von Sprache die Rede ist, sondern sofort die Welt der Akustik
und der Klänge evoziert wird als grundlegend magische Handlungsweise. Dass in
diesem Zusammenhang der Sinn von Musik in der Herstellung, Festlegung und
Bekräftigung von Beziehungen durch Kommunikationsakte liegt, ergibt sich geradezu von selbst; das
Erklingenlassen von Musik ist gerade
der magische Akt.
Zumindest an dieser Stelle muss auch
auf die Forschungen von Barry Truax und dem World Soundscape Project
hingewiesen werden, siehe etwa das Buch "Acoustic Communication" von
Truax. Dort ist in eindrucksvoller Weise nachzulesen, welchen Einfluß die rein
akustische Umgebung auf alle Lebensumstände des menschlichen Lebens besitzen
und in wie vielfältiger Weise das Hören den ganzen Menschen bestimmt. Auch den
Manipulationstechniken durch bewußte Gestaltung der akustischen Umwelt ist Raum
gewidmet. Dies ist ein wahrlich magischer Akt: menschliche Wesen werden dadurch
beherrscht, das der "Name" des Wesens (oder was auch immer,
jedenfalls immer in der rechten Weise) zum Erklingen gebracht wird .... Wie
dynamisch wandelbar die akustische Umwelt allerdings ist, zeigt die von R.
Murray Schafer geäußerte Schätzung der Naturgeräusche (N) und der von
Werkzeugen, Maschinen, Verkehrsmitteln etc. (WMV) verursachten Geräusche: in
Frühkulturen und im Mittelalter betrug
der geschätzte Anteil von N 69%, der von WMV 5%. In der Gegenwart hat sich
dieses Verhältnis umgekehrt: N besitzt nur noch einen Anteil von 6% gegenüber
WMV mit 68%! [Blau, S. 202]
Das narrative Moment der Postmoderne
und deren "kleine Erzählungen" lassen sich leicht mit den
"Mythen" identifizieren:
Beim
Lernen der meisten Fähigkeiten in der Kindheit geschieht folgendes: Die
Erwachsenen führen den effektiven Gebrauch des Nervensystems vor, das die
Muskeln und Sinnesorgane beherrscht. Die Vorführung der Erwachsenen liefert dem
Kind ein Bild, das es genau kopieren kann. Lernen beruht also in erster Linie auf
Nachahmung. ... Die Sprache besteht indessen aus Äußerungen, die Bedeutung
tragen, und es erfordert mehr als bloßes Lernen, will man die Art von
Information verstehen, die sie vermittelt. Erforderlich ist die Entwicklung
dessen, was ich den "kulturellen Geist" nenne. ... Es ist Geist, der
fähig ist, Nomina und Verben mit Hilfe von Konjunktionen und Beiwörtern zu
Sätzen zusammen-zufügen. Ein Geist, der "Geschichten" folgen, sie
verstehen und sich einprägen kann, in denen verschiedene Personentypen agieren,
reagieren und interagieren und dabei bestimmte bedeutsame Verhaltensweisen an
den Tag legen. Diese Geschichten sind Mythen. Sie geben dem jungen Geist die
Gefühlserkenntnis weiter, daß gewisse Handlungsweisen von größter Bedeutung
sind und daß sich eine Nachahmung lohnt. [Rud, S. 18]
Das
Tonerlebnis ist in dem Sinne magisch, als es eine lebenswichtige Art von
Kommunikation zwischen Lebewesen herstellt. [Naturklänge, Tierschreie...] .... Nur in echten Kulturen [gemeint sind die nach-animistischen] werden die Einzeltöne zu bestimmten Reihen
angeordnet. ... Töne werden zu Gramas geordnet, wie Familienhütten zu Dörfern
geordnet werden. Das Dorf ist in dem Sinne ein Mythos, als es kollektiv als
eine Daseinsform erlebt wird, die eine eindeutige Stärke hat. [Rud, S. 45]
Im Grunde finden sich hier die
gleichen Ebenen von Sinnvollzügen wieder, die in J. Heinrichs
"Refexionstheoretischer Semiotik" [Hein] aufgezeichnet sind: Handeln - Sprache - Kunst - Mystik. Auch hier
geht Kommunikation vom Handeln aus. Als höchstreflektierte Art des Handelns
wird das Ausdruckshandeln und innerhalb dessen das Zeichenhandeln aufgefasst.
Dieses geht über in Sprache:
Sprache
ist ein solches Zeichenhandeln, das sich im Handlungsvollzug durch die
gleichzeitige Verwendung von syntaktischen Metazeichen selbst regelt. Diese
Gleichzeitigkeit von Zeichenhandeln und seiner Regelung durch eigene
Metazeichen in ein und demselben Vollzug zeigt an, daß mit der Sprache nicht
nur ein besonders leistungsfähiges System des Zeichenhandelns eröffnet ist, sondern
eine grundsätzlich höhere semiotische Ebene: solches Handeln ist in sich
gedoppelt, indem es (d. h. der Handelnde) sich zusieht und bespricht. Sprechen
ist daher immer auch ein Sichselbstbesprechen des Sprechaktes. [Hein, S. 12]
Die
Kunst verhält sich nach der vorangeschickten These zur Sprache analog wie die
Sprache zum Handeln: sie bildet eine nochmals höhere semiotische Ebene. Wie die
Sprache als Meta-Handeln, so soll die Kunst als Meta-Sprache dargestellt
werden, jedoch nicht im Sinne des nachträglichen Besprechens einer primären
gegenstandsbezogenen Sprache, wie man gewöhnlich „Metasprache“ versteht. Von
solcher künstlichen wissenschaftlichen Metasprache unterscheidet sich die
künstlerische dadurch, daß sie in ihrem Vollzug im künstlerischen Produzieren
und Rezipieren eine übersprachliche Reflexionsstruktur aufweist. [Hein S. 13]
Der Darstellung Heinrichs zufolge ist
es so, dass Kunst wesentlich darin
besteht, Ausdruck des menschlichen Ausdrucks selbst zu sein, sozusagen
Ausdruckshandeln in Potenz, welches den Ausdruck als solchen kultivieren will.
Ausdruck von Ausdruck besagt nicht eine quantitative Steigerung von Ausdruck,
sondern eine qualitative Intensivierung durch reflexiven Bezug auf primären
Ausdruck. Dieser letztere wird „Gegenstand“ einer neuen Ausdrucksbeziehung, von
Meta-Ausdruck. Wenn Sprache die durch autoreferentielle Metazeichen
geschehende Selbstreflexion des Handelns qua Zeichenhandeln darstellt, so ist
Kunst die Selbstreflexion und Selbstregulierung des Handelns qua Ausdruckshandeln
überhaupt (das Zeichenhandeln ist nur eine Art des Ausdruckshandelns, und zwar
die abstrakteste). [Hein, S. 13]
Als letzte semiotische Ebene
bezeichnet Heinrichs die Mystik. Für die folgenden Sätze vergegenwärtige man
sich den Begriff des "Sinnmediums", wie er in Abschnitt 3 gebraucht
wurde:
„Mystisch“
soll - in hypothetischer Weise - ein solcher Sinnprozeß genannt werden, in dem
die Einseitigkeit des Handelns, die auch dem Metahandeln des Sprechens sowie
der Metasprache des künstlerischen Tuns noch anhaftet, in eine Gegenläufigkeit
des Wirkens vom Subjekt einerseits sowie vom Sinnmedium menschlicher Vollzüge
anderseits her aufgehoben wird. ... Die Aufhebung der Einseitigkeit des
subjektiven Handelns in eine Gegenläufigkeit von Aktivität und Passivität, von
Spontaneität und Rezeptivität, von Setzen und Voraussetzen des Sinnes tritt
schon in der Sprache zutage, insofern der Sprecher bereits ein mehr oder
weniger konventionalisiertes Sprachsystem voraussetzt; sie steigert sich in der
künstlerischen Tätigkeit - womit sich bereits das ankündigt, was auf der
vierten und abschließenden semiotischen Ebene vollends thematisch wird.
[Hein, S. 14]
So kann also weder von passiver
Kunstbetrachtung noch von aktivem „autonomem“
Kunstschaffen die Rede sein. Vielmehr setzt sich der handelnde Mensch
durch Wahrnehmung und Kommunikation („normale“ und künstlerische) zu seiner Lebenssituation und zu sich selbst
ins Verhältnis (wie weiter oben schon gesagt) und wird andererseits durch
ebendiese Lebenssituation und durch sein Wahrnehmungsvermögen ins Verhältnis
gesetzt. Das Netzwerk des Lebens gestaltet ihn, wird durch ihn gestaltet und
befindet sich in fortwährender Bewegung. Gerade die Musik kann zu diesem
Energieaustausch einen nicht unbedeutigen Beitrag leisten, ist sie doch
geradezu das Sinnbild für schwingende Bewegung (Schallschwingungen) und
Freisetzung von Energie. Dies ist die Magie der Musik.
10. Ontologie revisited
Der Bogen von Wahrnehmung über
Kommunikation und künstlerischem Ausdruck hin zu Mythos und Mystik ist nun
gespannt. Wie schon zu Beginn gesagt, ist beim Abschreiten dieses Weges nur an
der Oberfläche gekratzt worden unter Auslassung der vielen Gelegenheiten, in
die Tiefe vorzudringen. Der Vorwurf der Oberflächlichkeit liegt somit nahe:
Oberflächenerscheinungen werden als
Veränderungen des untersuchten Objekts unterstellt, ein allgemeiner Zug der
Diskussion über die Postmoderne. Letzten Endes figurieren einige
klassifikatorische Unterscheidungen von Rezeptionsweisen, die für den
Kulturbetrieb unabdingbaren „Wellen“, als Aussagen über Strukturmerkmale. Das
die postmoderne Kunst bezeichnende Nebeneinander unterschiedlicher Stile,
Verfahrensweisen und Materialstände scheint ihm die Aufgabe der These vom
„avanciertesten künstlerischen Material“, von der „Einsträngigkeit des
künstlerischen Materials“, wie sie Adorno expliziert habe, zu fordern. [Schäd, S. 20]
Gerade der Begriff Postmoderne
ist für viele ein „rotes Tuch“ und wird sehr kontrovers diskutiert. Ein
Rückfall hinter die Erkenntnisse und Positionen von Musikphilosophie und
Ästhetik Adornoscher Qualität wird befürchtet (manchmal zu Recht) und scheint
in einen Rückfall in Barbarei und seichtes Geplauder enden zu wollen. Dazu ist
zunächst einmal zu sagen, dass es im vorliegenden Text vor allem um den Aspekt
der Kommunikation geht, nicht um eine Ästhetik des Kunstwerks, für die Adornos Ästhetische
Theorie immer noch der Maßstab ist. Wenn auch der „anthropologische Ansatz“
dem „ontologischen Ansatz“ mit dem Kunstwerk im Mittelpunkt vorgezogen wurde, so ist die Analyse eines
Kunstwerks anhand des ihm eigenen Materials und des von ihm selbst gesetzten
Formgesetzes nach wie vor die „richtige“ Methode. Und die
Auflösungserscheinungen des Begriffs Kunstwerk in der Postmoderne bedeuten
keineswegs, dass es keine neuen Kunstwerke mehr gibt oder geben sollte. Es geht
eher darum, in einer veränderten Gesellschaft verändertes
Kommunikationsverhalten aufzuzeigen und Implikationen für musikalisches Handeln
zu diskutieren.
Die Ästhetik Adornos steht somit
keineswegs im Widerspruch zur Postmoderne:
„Mit den Kategorien haben auch
Materialien ihre apriorische Selbstverständlichkeit verloren ...“ Dieser
Entzug, der schließlich auch den Begriff von Kunst selbst problematisch werden
läßt und ihm jede Selbstverständlichkeit nimmt, zeichnet die Kunst nach der
klassischen Moderne aus. Jean-Francois Lyotard hat versucht,, die Bestimmungen
der Kunst der Moderne von denjenigen der Postmoderne abzugrenzen. Er geht dabei
aus von der Kantschen Vorstellung des Erhabenen als der Erschütterung des
Subjekts, in der Lust und Unlust zusammenschießen. Er sieht die Suche nach
jenem Erhabenen als den Motor der modernen Kunst. Und er sieht den Unterschied
von moderner und postmoderner Ästhetik darin, daß in dieser das Erhabene als
das Nicht-Darstellbare auch auf die Form übergreift, während es in jener noch
nostalgisch in einer Ästhetik des Schönen als bloß Abwesendes fungiert.
Somit würde postmoderne Kunst jeden
Konsens, auch den in der Form sedimentierten, aufgeben, um sich dem
Nicht-Bestimmbaren zu nähern. Es ist evident, wie sehr Adornos Ästhetik, trotz
allen Festhaltens einer die Moderne umgreifenden einheitlichen Geschichte,
dieser Bestimmung von Postmoderne nahe kommt. Auch für ihn galt, daß es für
Kunst nichts Gesichertes mehr gibt, kein Material, kein Formgesetz – daß wahr
nur ist, „was nicht in diese Welt paßt“. [Schäd, S. 24]
11. Fazit
Die hier eher aphoristisch
vorgestellten Thesen und Meinungen diverser Authoren verdienen jede für sich
gewiss tiefergehende Betrachtungen. Vieles ist nicht gesagt oder in arg
verkürzter Form dargestellt worden. Worauf es mir allerdings ankommt, ist die
Darstellung des „Phänomens Musik“ als eine Handlungsoption der Gattung Mensch,
wobei diese Option dazu beiträgt, die Welt als sinnvolle zu erleben, indem die
Musik mithilft, das Sinnmedium (s.o.) zu gestalten, innerhalb dessen sich
„Sinn“ entfaltet.
Musik, auch „passives“ Musikhören, ist
ein kommunikatives Handeln. Der Mensch kommuniziert dabei mit sich selbst, mit
der Gesellschaft und letztendlich mit der Welt als Ganzes. Auf diese Weise
definieren sich die Knoten des sozialen und kulturellen Netzwerks durch
Wechselwirkung untereinander permanent aufs Neue.
Die musikalische Kommunikation ist im
wesentlichen analoger Natur. Besitzt die Musik wie in der abendländischen
Kunstmusik (oder auch in indischer Raga-Musik) zusätzlich eine entwickelte
musikalische Logik als digitale Komponente, so trägt dies sicherlich zu einer
Vertiefung des ästhetischen Erlebens bei, ist jedoch keineswegs eine notwendige
Voraussetzung für musikalischen Sinn.
Man mag an das anthropische Prinzip
der modernen Kosmologie denken, das besagt: da wir in der Lage sind, die Natur
und das Universum so zu erleben, wie wir dies tun, müssen die Naturgesetze
zwangsläufig so beschaffen sein, wie sie sind (wären einige Gesetze oder
Naturkonstanten anders beschaffen, gäbe es uns Menschen nicht und damit
niemanden, der sie beobachten könnte). Dies könnte auf die Musik umgemünzt
werden: gerade weil der Mensch mit einem spezifischen biologischen Apparat
ausgestattet ist und wegen seiner mentalen Komplexität auf Sinnvollzüge durch
kommunikatives Handeln zur Lebensbewältigung angewiesen ist, besitzen gewisse
akustische Handlungen, genannt Musik, für ihn unter Umständen eine hohe
Bedeutung losgelöst vom praktischen Nutzen der unmittelbaren Lebenserhaltung.
Hatten Dinosaurier so etwas wie Musik?
Immerhin lebte der 25 m lange und 50 t schwere Brachiosaurus für den
gigantischen Zeitraum von 40 Millionen Jahren auf der Erde (vor 153 bis 113
Mio. Jahren). Im Gegensatz dazu gibt es Hominide gerademal ein Zehntel der
Zeit, nämlich seit 4 Millionen Jahren, die Gattung Homo seit 2,5 Millionen
Jahren und der Homo Sapiens bringt es gar auf nur 200 000 Jahre. In dieser
letzten Zeit scheint die Musik immer präsent gewesen zu sein, zumindest für die
letzten 6000 Jahre wissen wir dies mit Sicherheit. Auch für die Dinosaurier
wird Kommunikation einen hohen Stellenwert besessen haben. Zwar bewegten sie
sich in einer gänzlich anderen Welt und besaßen offensichtlich völlig andere
biologische „Parameter“ als der Mensch, doch ist es deswegen ausgeschlossen,
dass gewisse Wahrnehmungen wie rhythmisches Stampfen o.ä. von ihnen aufmerksam
verfolgt wurde?
Allerdings scheint es eine spezielle
Eigenschaft des Menschen zu sein, ein komplexes Zeichenhandeln nicht nur an den
Tag zu legen, sondern dessen für seine Lebensführung essentiell zu bedürfen.
Musik als „Meta-Kommunikation“ sowie als „magische Handlung“ trägt in diesem
Sinne ganz konkret dazu bei, die Welt im Guten wie im Bösen mitzugestalten.
Möge das Gute überwiegen.
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